Korruptionsskandal beim NDR: Familienproduktionen
Sie steht für NDR-Tatorte und große ARD-Filme: Doris J. Heinze. Doch jetzt droht die fristlose Kündigung, weil sie über Jahre ihrem Mann Drehbuchaufträge zuschanzte.
Der öffentlich-rechtliche Rundfunk hat einen neuen Korruptionsskandal. Doris J. Heinze, die Redaktionsleiterin Fernsehfilm beim Norddeutschen Rundfunk in Hamburg, hat über Jahre ihrem Ehemann Aufträge als Drehbuchautor zugeschanzt. Der NDR hat die 60-Jährige, die zu den bekanntesten, einflussreichsten und erfolgreichsten Fernsehfilm-RedakteurInnen Deutschlands gehört, am Donnerstag vom Dienst suspendiert und bereitet eine fristlose Kündigung vor.
Damit reagiert die drittgrößte ARD-Anstalt auf Recherchen der Süddeutschen Zeitung. Man sei "unverzüglich Hinweisen über Verfehlungen bei der Auswahl und Vergabe von Drehbüchern in der Redaktion von Doris J. Heinze nachgegangen" heißt es in einer Mitteilung des NDR. Dabei habe Heinze eingeräumt, dass ihr Ehemann in den Jahren 2001 bis 2009 über zwei Produktionsfirmen insgesamt fünf Drehbuchaufträge für Fernsehfilme erhalten hat. Beim Sender firmierte der Ehemann von Heinze als "Niklas Becker". Für Pressematerial wurde eine fiktive Biografie von „Becker“ erfunden, der angeblich als freier Autor in Kanada lebe.
"Die inzwischen vorliegenden Erkenntnisse haben uns keine andere Wahl gelassen, als uns von Frau Heinze zu trennen", sagte NDR-Intendant Lutz Marmor: "Gegen unlauteres Verhalten gibt es keinen absoluten Schutz. Sobald wir in diesem konkreten Fall Hinweise erhalten hatten, haben wir unverzüglich eine intensive Prüfung eingeleitet". Er habe die Revision des NDR mit der vollständigen und umfassenden Aufklärung des Sachverhalts beauftragt, so Marmor.
Zu den betroffenen Fernsehfilmen gehört unter anderem "Der zweite Blick" von 2005 mit Suzanne von Borsody, Guntbert Warns und Catrin Striebeck. Im Presseheft des Films finden sich auch "Statements" und eine fiktive Biografie Beckers, der im "Ruhrgebiet aufgewachsen" sei und "seit 1986 in in Amsterdam und Montreal lebt, wo er unter anderem als Script-Doctor tätig war". Diese Angaben seien von Heinzes Redaktion beziehungsweise der Produktionsfirma an die NDR-Pressestelle geliefert worden, heißt es dort. Ebenfalls aus der Feder von „Niklas Becker“ stammen die Bücher zu "Fast ein Volltreffer" (2007), "Katzenzungen" (2003) und "Vor meiner Zeit" (2001).
Heinzes Mann habe ohne weiteres die Möglichkeit gehabt, ganz offiziell als Drehbuchautor für den NDR zu arbeiten, sagte NDR-Sprecher Martin Gartzke, nur nicht mit Doris Heinze als zuständiger verantwortlicher Redaktionsleiterin. Die "Familienproduktionen" von Heinze/Becker wurden laut NDR von zwei Münchner Produktionsfirmen, der AllMedia Pictures GmbH und der Firma Oberon Media Service Film, abgewickelt.
Der NDR-„Tatort“ mit Maria Furtwängler als Kommissarin Charlotte Lindholm oder „Polizeiruf 110“-Produktionen des Senders, für die Heinze ebenfalls verantwortlich ist, sind offenbar nicht unter den jetzt aufgeflogenen „Familienproduktionen“. NDR-Sprecher Martin Gartzke sagte der taz, nach bisheriger Erkenntnis sei dem NDR auch kein finanzieller Schaden entstanden, da die Drehbücher ja geliefert wurden. Die Süddeutsche hatte auch über „Hinweise“ berichtet, nach denen auch „für nicht existierende Drehbücher bezahlt worden sein könnte“, ohne diese Vorwürfe zu konkretisieren. Dies hat Heinze jedoch bestritten, laut NDR haben die bisherigen Prüfungen hier auch keine weiteren Erkenntnisse gebracht.
Dass der fiktive Drehbuchautor „Niklas Becker“ während seiner fast zehnjährigen Tätigkeit nicht aufflog, liegt auch in der Vertrauensposition, die Doris Heinze bei der Anstalt und in der TV-Branche genoss. „Wenn einem da ein Autor als kontaktscheuer Künstler präsentiert wird, der zurückgezogen lebt und lieber per E-Mail korrespondiert, als zu Konferenzen anzureisen, kommt man doch nicht darauf, das alles in Zweifel zu ziehen“, sagt ein NDR-Mitarbeiter.
"Am Anfang meiner Bucharbeit steht jedes Mal die Frage, ob es den Personen der Handlung wohl gelingt, ein für mich überraschendes und nie langweiliges Leben zu leben", schreibt der angebliche Drehbuchautor „Niklas Becker“ zum Film "Der zweite Blick": "Ich bin auch derjenige, der von ihnen erfährt, warum sie so sind, wie sie sind. Ich bin jedes Mal gespannt, wie es weitergeht." Ob "Niklas Becker" mit diesem Ende gerechnet hat, darf bezweifelt werden. Bei den meisten NDR-Mitarbeitern lautet die Frage seit Donnerstag: "Warum macht so jemand wie Doris Heinze so etwas?"
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Prozess zu Polizeigewalt in Dortmund
Freisprüche für die Polizei im Fall Mouhamed Dramé
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Armut in Deutschland
Wohnen wird zum Luxus
Leben ohne Smartphone und Computer
Recht auf analoge Teilhabe
Ex-Mitglied über Strukturen des BSW
„Man hat zu gehorchen“
Studie Paritätischer Wohlfahrtsverband
Wohnst du noch oder verarmst du schon?