■ Vom Nachttisch geräumt: Konzession
Eine Postbeamtin hinter ihrem Schalter. Eine phantasiebegabte junge Frau, die keines der Telegramme ihrer reichen Kundschaft — wir leben im Jahr 1898 — vergißt, die leicht die Zusammenhänge, die zwischen der einen und der anderen Mitteilung bestehen, errät, die die Lücken zwischen ihren Informationen mit Hilfe ihrer erregten Einbildungskraft zu füllen versteht. Henry James porträtiert die arme Frau mit den großen Träumen 70 Seiten lang so meisterhaft, so unvergleichlich genau und bewegend, daß ich, als die Geschichte begann, mich an ihr störte. Die kleine Annäherung zwischen dem reichen jungen Telegrammaufgeber und dem Fräulein hinter dem Schalter im Käfig ist eine unangenehme Zutat, eine unerfreuliche Konzession an jenen unersättlichen Hunger auf Geschichten, der sich nicht zufriedengeben will mit dem zarten Gespinst aus kleinen Beobachtungen und Beschreibungen, sondern beim Lesen teilnehmen möchte an einem Drama, am Auf und Ab einer Entwicklung. Selten habe ich das Unzulässige dieser Zumutung deutlicher gespürt als bei dieser wunderbaren kurzen Skizze, die durch die Story, so geschickt James sie auch unterbringt, nur verlieren konnte.
Gottfried Röckelein, wer immer sich hinter diesem Namen verbergen mag, hat die Erzählung großartig übersetzt. Im Kräfig ist rundum ein Vergnügen.
Henry James: Im Käfig. Übersetzt von Gottfried Röckelein, ars vivendi Verlag, 147Seiten, 24,80DM.
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