Konvertiten: Das Ich ist nie komplett
Niemand ist so beunruhigend wie der islamische Konvertit: Indem er sie scheinbar verlässt, zeigt er, wie labil unsere Kultur ist.
Wenn es einen Wettbewerb gäbe, welche Figur gegenwärtig die tiefste Beunruhigung verursache, dann wäre die Antwort wohl: der dschihadistische Konvertit. Der muslimische Fundamentalist mag zwar gleich dahinter rangieren, doch hat er einen unüberbietbaren Vorteil. Er hat eine eindeutige Identität, und diese ist eine eindeutig andere als unsere. Insofern hat der radikale Islamist in seiner schreckenerregenden Sichtbarkeit auch etwas sehr Beruhigendes, versichert er uns doch gerade durch seine Fremdheit in unserer eigenen Identität. Der Schrecken, den uns der Konvertit einflößt, ist jedoch ganz anderer Art. Der konvertierte Fundamentalist ist ethnisch gesprochen (und um solche Denkkategorien geht es ja) kein Anderer. Eben weil er aus unserer Mitte kommt, stellt er diese so nachhaltig in Frage. Die Frage aber, die er aufwirft, lautet: Wieso greift unsere Identität nicht?
Eine erste Erschütterung hat diese Identität durch den ersten Typus des islamistischen Terroristen erfahren - durch den sogenannten Schläfer. Jene Leute, die hier alle Wege von Schulen über Ausbildung bis hin zum Job durchlaufen haben und dennoch nie angekommen sind. Die jahrelang all den Versuchungen des westlichen Lebens, allen Verführungen einer westlichen Identität widerstanden haben. Die sich unserem Glücksversprechen verweigert haben. Wir sind darin geübt, unser Glücksnarrativ, unsere Erzählung eines geglückten Lebens, als überzeugend zu erleben. So weit, dass keiner sich diesem entziehen kann, wenn er es bis hierher geschafft hat. Mauern und Zäune waren nötig, um die Leute davon abzuhalten. Den Schläfer hingegen hielten keine Mauern zurück, er war hier integriert und hat dem Glücksangebot - nicht nur dem des Konsums, sondern auch dem von Bildung und beruflicher Erfüllung - dennoch eine Absage erteilt.
Hat der Schläfer uns also vorgeführt, dass auch eine erfolgreiche Integration ein Fehlschlag sein kann, so zeigt uns der Konvertit, dass nicht nur die fremde, sondern auch die eigene Integration scheitern kann. Und das ist natürlich fatal. Denn damit kolonisieren die Terroristen nicht nur unsere Lebenswelt und unsere Öffentlichkeit, damit dringen sie auch in unser Innerstes, in unsere kollektive Identität ein. Die Frage, wie der Konvertit dieses Fremde zum Eigenen machen kann, steht ebenso im Raum wie die viel bedrückendere Frage: Wie ist die deutsche, wie ist die westliche Identität beschaffen, dass man sich von ihr einfach abwenden kann? Zeigt uns nicht der Konvertit, wie labil, wie konstruiert unsere Kultur sein muss, wenn man diese einfach verlassen kann, wie man eine Wohnung verlässt?
Ob dieser Beunruhigung, die der Konvertit erzeugt, beruft man sich heute gerne darauf, dass wir solch eine Art von Bruch längst kennen. Von der RAF (und da zeigt sich, dass die obsessive Beschäftigung mit dieser nicht nur "linke Vergangenheitsbewältigung" bedeutet, sondern auch eine Einführung in die Psychodynamik von Terrorgruppen) bis hin zu den muslimischen Dschihadisten und den Neonazis wollen wir - trotz aller Unterschiede - dieselbe Struktur ausmachen: den Bruch mit der eigenen Herkunft. Wenn dem so wäre, dann würde das Christentum die Urszene dafür liefern, wenn Jesus nämlich sagt: "Wenn jemand zu mir kommt und nicht Vater und Mutter, Frau und Kinder, Brüder und Schwestern, ja sogar sein Leben gering achtet, dann kann er nicht mein Jünger sein."
Statt überall dasselbe Schema wiederzuerkennen, ist es vielleicht produktiver, sich den Unterschieden zuzuwenden. So verstand sich die RAF und in gewissem Sinne auch der islamische Terrorist, der sich gegen den Kulturislam seiner Eltern wendet, als Aufbegehren gegen die Dekadenzformen ihrer jeweiligen Kulturen. In diesem Sinne sind sie immer noch Teil, äußerster Teil jener Welt, gegen die sie rebellieren. Der radikalisierte Konvertit hingegen setzt einen Schritt ganz anderer Art. Im Unterschied zu dem, was man annehmen würde, wechselt er nicht einfach einen Glauben gegen einen anderen. Denn die subjektive, innere Überzeugung, die wir "Glauben" nennen, bedarf einer materiellen, institutionellen Existenzweise in Familie, Kultur und Tradition. Diese stellt gewissermaßen den objektiven Glauben dar. Konversion, zumal im Fall der Konversion zum Dschihadismus, bedeutet, einen objektiven Glauben, einen gesamten soziosymbolischen Zusammenhang - kurz, eine Welt -gegen eine rein subjektive, innere Überzeugung einzutauschen. Diese Konvertiten suchen das Fremdeste, das nicht einmal mehr an der Peripherie unserer Kultur Platz hat - ein wirkliches Außen. In diesem Sinne kann man sagen: Sie vermessen unsere Welt, indem sie deren tatsächliche Grenze überschreiten.
Mit diesem Schritt scheint der Konvertit zu zeigen, man könne seinen Glauben, man könne seine Identität selber wählen. Und das ist erstaunlicherweise eine beunruhigende Perspektive, zeigt diese doch, wie konstruiert solch eine kulturelle Identität letztlich ist, die wir doch als selbstverständliche erleben. Der terroristische Konvertit ist ein Deutscher oder ein Amerikaner, der den Islamismus wählt. Tatsächlich ist dies kein emphatischer Akt einer freien Entscheidung. Denn der Konvertit wählt nur, um nicht mehr wählen zu müssen - um sich vollständig unterzuordnen. So mündet dieser weitestmögliche Schritt hinaus nicht in der Freiheit, sondern in der Unterwerfung. Diese zeigt sich an dem immer wieder bemerkten Eifer des Konvertiten, die neu gewonnenen Regeln penibelst einzuhalten - penibler als jene, die keine freie Entscheidung auszugleichen haben.
Nun ist es aber so, dass jede kulturelle oder religiöse Identität nur aus der Außenperspektive wie eine volle Identität aussieht, mit der man sich zu hundert Prozent identifiziert, die keinen Raum für Zweifel lässt. Das ist das Phantasma, dem der Konvertit aufsitzt, die Falle, in die er tappt. Er entscheidet sich freiwillig für eine völlige Unterwerfung, um dafür eine lückenlose Identität im Tausch zu erhalten. Wir Nicht-Konvertiten wissen aber längst, wie phantasmatisch jede Vorstellung einer vollen Identität ist. Wir wissen darum, dass man jede Kultur nur in der Distanz, in der Brüchigkeit leben kann. Mehr noch: Identität ist nichts anderes als der Zweifel an ihr. Gerade diese Labilität, die zwingt, dass man sich seiner Identität ständig versichern muss, macht deren Kraft aus. Wenn es etwas gibt, dass uns die Aufklärung gelehrt hat, dann ist es das. Dahinter kann man sich nicht zurückbomben.
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