Kontroverse um Herta Müller in Serbien: In ein Wespennest gestochen
Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller gibt in Belgrad Serbien die Schuld an den Balkan-Kriegen der 90er Jahre und wird dafür scharf angegriffen.
„Müller missbraucht unsere Gastfreundschaft“, empörte sich das Boulevardblatt Informer. Und die größte Zeitung Blic sprach von einem „Schock“.
Die Literatin sei eine Vertreterin „des Angst machenden, tiefen und primitiven Hasses gegen die Serben, wie ihn die Deutschen sonst einzig gegen die Juden gezeigt haben“, war in der Regierungszeitung Novosti zu lesen.
Herta Müller hatte letzte Woche auf dem Podium des „Jugoslawischen Drama-Theaters“ in dem vom FAZ-Korrespondenten Michael Martens geleiteten Gespräch Serbien die Schuld an den Kriegen der 90er Jahre zugesprochen. Dabei hatte sie auch die Orthodoxe Kirche in ihre Kritik eingeschlossen.
„Die Serben haben sich selbst Leid angetan“
Die Serben seien als Kriegstreiber für unendliches Leid in Bosnien und Herzegowina und im Kosovo verantwortlich, betonte Müller. „Die Serben haben sich selbst Leid angetan, und damit müssen sie jetzt leben. Wenn man die Frauen aus Srebrenica sieht, das bricht mir bis heute das Herz“, erklärte sie während der Veranstaltung in Anspielung auf das monströse Verbrechen einer serbischen Soldateska in Srebrenica. Dort waren 1995 mehr als 8.000 Männer ermordet worden.
Im Saal rumorte es, erste Zuschauer verließen den Raum. Doch Müller setzte noch einen drauf. „Weil ich glaube, es war so viel passiert, und man hatte dem Kosovo und Bosnien so viel Leid angetan, und es war dieser schlimme Nationalismus, an dem auch, glaube ich, die orthodoxe Kirche sehr stark mitgemischt hat,“ seien die NATO-Bomben auf Serbien im Frühjahr 1999 gerechtfertigt gewesen, um Diktator Slobodan Milosevic zu stoppen.
Darauf verließen viele Zuhörer geschockt die Szene. Der Auftritt Müllers sprach sich herum. In den nächsten Tagen erfasste eine Welle der Empörung das Land, die am Wochenende in einer breiten Medienhetze endete.
Müller als Tochter eines SS-Vaters darzustellen gehört in Serbien zu den Methoden der Diffamierung. Zwar sollte die Sippenhaft abgeschafft sein, doch solche Vorwürfe gehören seit langem zum Repertoire serbischer Nationalisten bei der Auseinandersetzung mit Andersdenkenden aus anderen Volksgruppen.
Serbische Nationalisten wollen nicht aufgeklärt werden
Dass sich die Nobelpreisträgerin der Geschichte des Zweiten Weltkrieges und seiner Folgen stellt, dass sie die Irrwege der deutschen Minderheit im Banat, aus dem sie stammt, kritisch reflektiert, dass sie die Mechanismen der Ceausescu-Diktatur in Rumänien seziert und damit aufklärerisch wirkt, das alles wollen die einschlägigen Zeitungen in Serbien nicht zur Kenntnis nehmen.
Diese Fragestellungen würden sie ja selbst in ihren Handlungs- und Denkweisen herausfordern. Die serbische Öffentlichkeit ist keineswegs bereit, selbstkritisch mit der eigenen Geschichte umzugehen. Lieber werden Verschwörungstheorien in Umlauf gesetzt. Die Öffentlichkeit und Politik möchte die serbische Nation als Opfer der Geschichte stilisieren.
Pragmatischer antwortete kürzlich ein Polizeioffizier im Rahmen einer Diskussion über die Vergangenheit dem Autor gegenüber. „Wenn wir Schuld zugeben, werden das unsere Gegner ausnutzen und auf uns eindreschen,“ erklärte er.
Wie soll aber dieses Land, das nicht in der Lage ist, selbstkritisch mit sich umzugehen, Mitglied in der Europäischen Union werden?
Sonja Biserko, Vorsitzende des serbischen Helsinki-Komitees für Menschenrechte und seit Jahrzehnten Streiterin für eine offene Diskussionskultur, nannte es „unverzichtbar“, dass die Gesellschaft in Serbien höre, was andere über sie denken. Stattdessen werde „eine Atmosphäre geschaffen, die gegen jeglichen Dialog und jegliche Debatte über die Verantwortung des Milosevic-Regimes ist.
Statt sich von seinem Regime zu distanzieren, werde Milosevic rehabilitiert und als größter serbischer Politiker gefeiert. Die Gesellschaft sei nicht bereit, sich mit den nackten Tatsachen abzufinden, erklärte Biserko am Rande der Veranstaltung mit Müller.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Wirtschaftsminister bei Klimakonferenz
Habeck, naiv in Baku
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit