Konsequenz war sein letztes Wort

■ Wahnsinnige Fiktion: Während es am Bremer Theater mit den Finanzen immer rasanter bergab geht, wurde die Oper „Jakob Lenz“ von Wolfgang Rihm aufgeführt

Anstelle eines gedruckten Programmheftes: fotokopierte Materialien, liebevoll in kleine Briefumschläge verpackt. Ein kleines Zeichen für die Sparbereitschaft des Bremer Theaters und seines Intendanten Klaus Pierwoß. Aber die Bescheidenheit der Kultur hat Grenzen, die man Zumutbarkeit nennt. Am Tag der Premiere von Wolfgang Rihms „Jakob Lenz“ war diese Grenze überschritten: 3,5 Millionen Mark, so die Botschaft der neuen Bremer Kultursenatorin Kahrs (SPD), soll das Bremer Theater jährlich einsparen, und das ab Januar 1996. Ein Hohn auf die Geschäftsgrundlage des neuen Intendanten – und auf das Verständnis dessen, was künstlerische Arbeit bedeutet. Auch auf das, was Pierwoß' neues Theaterteam in den letzten eineinhalb Jahren geleistet hat.

Nachdem Tobias Richter und später dann Hans Günther Heyme ihren Hut genommen hatten, waren überhaupt keine ZuschauerInnen mehr gekommen. Jetzt ist es den Bremern unter Klaus Pierwoß in einer Tour de force gelungen, sich mit 26 Premieren und neun Wiederaufnahmen immerhin wieder ins Gespräch zu bringen. Als Joker in dieser Situation mag überdies der neue Generalmusikdirektor Günther Neuhold gelten, der mit seinem Arbeitseinsatz klotzte und ein entsprechend überzeugendes erstes Ergebnis lieferte: eine grandios glühende Aufführung von Schönbergs „Moses und Aron“ und eine entrümpelte von Puccinis „Madame Butterfly“.

Dies ist der atmosphärische Hintergrund zu der jetzigen Premiere im Bremer Concordia-Theater: Wolfgang Rihms 1979 uraufgeführte Kammeroper „Jakob Lenz“. Der Sturm-und-Drang- Dichter Lenz, 1751 geboren und 1792 in Moskau verhungert, „schuf mit seinem Leben eine wahnsinnige Fiktion“ (Wolfgang Rihm). Der Dichter, über den Georg Büchner mit seiner berühmten Novelle die erste literarische Schizophrenieuntersuchung schrieb, war in seiner Radikalität und Kompromißlosigkeit, in seinem Haß auf Heuchelei und seiner Sehnsucht nach Natur und unkirchlicher Religiosität so etwas wie eine Kultfigur der siebziger Jahre. „Konsequenz, Konsequenz, Konsequenz“ sind seine letzten Worte bei Rihm. Unabhängig von der präzisen Kraft von Wolfgang Rihms Vertonung gewinnt die Figur heute auf dem Hintergrund zunehmender Werte- Restauration erneute Aktualität. In einer Zeit, in der mancher wieder „verrückt“ werden oder aussteigen mag, in dieser Zeit steht die Kammeroper an neun Bühnen auf dem Spielplan.

Der junge Regisseur Jochen Biganzoli entschied sich in Bremen für ein sehr deutliches, aber auch zartes Verfahren. Er läßt realistisch, nicht stilisierend spielen, beachtet aber stets die Mehr- und Vielschichtigkeit der Ebenen. Außen- und Innenwelt, Wirklichkeit und (Wahn-)Vorstellung verschränken sich ständig: Die Geister reichen Lenz das Messer zum Selbstmord. Diese Erscheinungen haben in den zeitlupenartigen Bewegungen und in ihrer sackartigen Kleidung etwas Archaisches. Die ersehnte Friederike Brion, die seine Liebe abwies, erscheint ohne Gesicht. Dagegen bleiben der Pfarrer Oberlin, der ihn aufgenommen hat, und der Arzt Kaufmann, der ihn in seinem Elend besucht, normale Menschen.

Mit einfachen Mitteln gelingen Biganzoli immer wieder Momente, in denen das sehr private Schicksal des Lenz eine übergreifende Bedeutsamkeit erfährt. Lenz ist in uns allen, er gehört zum Alltag, das ist der Ton, den diese Inszenierung bei aller Vorsicht anschlägt. Das kastenartige Bühnenbild von Nikolaus Porz mit dem echten Wasser im Vordergrund stützt diese Konzeption ebenso gut wie die unaufdringlichen Kostüme von Andrea Kannapee.

Das will nicht heißen, daß die Ausdruckswut des wie unter Hochspannung stehenden Lenz nicht deutlich würde. Mit dem Finnen Heikki Kilpeläinen stand eine Figur auf der Bühne, die unaufgesetzt jene „Betroffenheit“ zu erreichen in der Lage war, die der Komponist sich für sein Stück wünschte. Die hohen musikalischen Anforderungen zwischen Sprechen und Singen bewältigte er ebenso wie Loren Christopher Lang die Partie des beschwichtigenden Oberlin und Bruce Rankin die des plappernden und erregten Kaufmann. Beide werden den endgültig psychisch verfallenen Lenz am Ende verlassen, die Oper zeigt nur die zehn Tage, die der kranke Dichter in der Obhut des elsässischen Pfarrers verbrachte. Eine Art Passionsweg der menschlichen Kreatur.

Die „extreme Kammermusik“ (Wolfgang Rihm) beruht auf dem Zusammenwirken des reibenden Intervalls Tritonus, dem „diabolus in musica“, und diversen traditionellen Formen. Daß Rihm dabei durchaus eine unverwechselbar eigene Sprache gefunden hat, realisierten die elf Musiker der Bremer Philharmoniker unter der Leitung von Catherine Rückwardt überzeugend. Und die explosive, ausladende Musik bleibt gegen jede Einordnung in Sparten nach wie vor immun. Ute Schalz-Laurenze