Konrad Lorenz über Kindheit auf St. Pauli: "Als ich frei war, ging nichts mehr"
Der Hamburger Schriftsteller Konrad Lorenz wuchs im St. Pauli der Nachkriegszeit auf und träumte, von der Kunst leben zu können. Er fuhr zur See und wurde Ingenieur. Als er den ungeliebten Job an den Nagel hing, fiel ihm nichts mehr ein.
taz: Herr Lorenz, Sie sind im zerstörten St. Pauli der 50er Jahre aufgewachsen. Wie wild war das?
Konrad Lorenz: Ach wild, ich kannte das ja nicht anders. Meine Freunde und ich haben uns natürlich immer als die abgebrühten Kiezkenner aufgespielt und zeigten den Jenseitigen, also den Klassenkameraden von der anderen Seite der Elbe, die Kneipen und Puffs. Das war aber Angeberei, wirklich wohl habe ich mich eigentlich nur bei uns in der Straße gefühlt.
Sie haben einen Roman über Ihre Jugend auf dem heutigen Hein-Köllisch-Platz geschrieben. Wie kam es dazu?
In unserer Familie gibt es zu Weihnachten ein Ritual. Wir treffen uns immer mit etwa 10 Personen und losen vorher aus, wer wen beschenkt. Aber zusätzlich muss jeder etwas Persönliches abliefern, üblicherweise ein Gedicht.
Selbst verfasst?
Ja, man kann auch ein Lied vorspielen oder tanzen, aber getanzt hat noch keiner. Naja, ich schrieb für meine Familie eine "Weihnachtsgeschichte" über meine Jugend auf St. Pauli. Dabei merkte ich, wie leicht es mir fiel, da wieder hinzukommen und die Sprache der Leute im Ohr zu haben. Diese Geschichte kam sehr gut an und wurde das erste Kapitel im "Rohrkrepierer".
Gibt es auslösende Momente, Gerüche etwa, die Ihre Erinnerungen wachrufen?
Da gibt es tatsächlich etwas, auch wenn ich eigentlich eher ein visueller Typ bin. Aber wenn es irgendwo muffig und feucht riecht, dann spulen sich in meinem Kopf die Nächte im Bunker ab.
KONRAD LORENZ 69, auf St. Pauli am Hein-Köllisch-Platz (damals Paulsplatz) geboren und aufgewachsen. Machte eine Ausbildung zum Maschinenschlosser, fuhr dann zur See und wurde Maschinenbauingenieur. Er hat schon während der Schulzeit erste Kurzgeschichten geschrieben und veröffentlicht.
1991 erschien sein fantastischer Roman "Das Nachtschattenspiel" und jetzt sein zum großen Teil autobiografischer Roman "Rohrkrepierer". Er ist verheiratet und hat zwei Söhne und eine Tochter.
Keine schöne Erinnerung, oder?
Ich empfinde das als angenehm. Im Bunker saß man ja sehr eng zusammen und als Kind fand ich das gemütlich. Die Angst, die die Erwachsenen sicherlich hatten, haben sie vor uns Kindern verborgen, und sie haben sich viel um uns gekümmert. Es war nie langweilig. Natürlich gab es auch mal Situationen, die grauenhaft waren, wie der Tod meiner Uroma im Reeperbahnbunker. Aber solche Dinge habe ich größtenteils vergessen oder verdrängt. Vieles weiß ich nur, weil es mir hinterher erzählt wurde. Ich kann schlecht zwischen diesen Erzählungen, meinen eigenen Erinnerungen und Fantasien unterscheiden.
War das ein Grund dafür, dass Sie sich für einen Roman und gegen eine autobiografische Erzählung entschieden haben?
Das war sicher auch ein Grund. Aber hauptsächlich wollte ich unterhalten. Als ganz junger Mann hatte ich den Anspruch, überwiegend literarisch zu sein. Aber das wirkt ja oft sehr gewollt, und dann fällt man damit auf die Nase, wenn es die Leute nicht verstehen.
Und wie sind Sie auf die Nase gefallen?
Früher traf man sich regelmäßig im Café Borchers, um Gedichte und Kurzgeschichten vorzulesen. Da kamen viele Zuhörer und in der Szene war es damals beliebt, sich verbal auseinanderzunehmen.
Sind da schon Ihre literarischen Ansprüche über Bord gegangen?
Nicht wirklich. Ich habe aber gemerkt, dass ich eine andere Sprache finden muss: meine Sprache. Ich bin zur See gefahren, habe meinen Lebensunterhalt als Ingenieur verdient und im Berufsleben sehr viel mit Facharbeitern und Werftleuten zu tun gehabt. Als ich begann, diese Sprache zu benutzen, bin ich authentischer geworden. Ich komme von da, und ich weiß wie es klingt, wie man redet.
Warum sind Sie zur See gefahren?
Ich wollte nicht zur Bundeswehr. Es gab zwar schon die Kriegsdienstverweigerung, aber da kannte sich ja keiner mit aus.
Und warum wollten Sie nicht zur Bundeswehr?
Ich habe den Krieg so erlebt, dass die Väter nicht wiederkamen. Und wenn sie doch wieder auftauchten, waren sie heftig traumatisiert, Alkoholiker und total neben der Spur. Damit wollte ich überhaupt nichts mehr zu tun haben.
Die Seefahrt war also das kleinere Übel?
Ja, aber eigentlich hatte ich sowieso ganz andere Pläne. Ich war künstlerisch begabt, habe viel gemalt und sogar Bilder verkauft. Mein Markenzeichen war der Jazzer Satchmo im Halbprofil mit Trompete. Als ich meine Lehre als Maschinenschlosser beendet hatte, habe ich mich am Lerchenfeld beworben und wurde auch angenommen.
An der heutigen Hochschule für Bildende Künste?
Genau, aber bevor ich meinen Studienplatz antreten konnte, wurde ich von der Bundeswehr zur Musterung vorgeladen. Zum Glück hatte mein Vater, der auch zur See fuhr, gute Kontakte und fand sofort ein Schiff für mich.
Sie mussten also die künstlerische Laufbahn gegen einen Frachter eintauschen?
Das hat mich mein Leben lang verfolgt. Es waren immer zwei Seelen in meiner Brust. Einmal war da das Kreative, damit habe ich ja viel Bestätigung erfahren, und dann war da mein Beruf, in dem das Geld die Bestätigung war.
Aber wieso haben Sie sich dann nach der Zeit auf See für ein Ingenieursstudium entschieden und wieder nicht für die Kunst?
Da wäre mir sofort die Bundeswehr dazwischen gekommen. Das Ingenieursstudium aber war ein Teil meiner Ausbildung zum Schiffsmaschinenbauingenieur. Währenddessen konnten sie mich nicht einziehen.
Und danach?
War ich verheiratet und hatte ein Kind. So ist das eben. Aber ich habe mich immer gefragt, ob ich nicht hätte ausprobieren sollen, professionell Kunst zu machen und nicht nur nebenbei. Das hat mich früher oft unzufrieden gemacht.
In welchen Momenten?
Wenn ich jobmäßig in Routine versunken bin. Mein Beruf hatte ja diese rein technische Seite, man musste sich in Details vertiefen und es gab auch viel Bürokratie. Das hat mich nicht interessiert.
Irgendwie ein bisschen traurig.
Aber ich habe immer nebenher geschrieben, schon während meiner Zeit auf See. Da hat man einen tagtäglichen Rhythmus von vier Stunden Wache und dann vier Stunden frei, vier Stunden Wache, vier Stunden frei. Wochenenden gibt es nicht. Das Schreiben war eine gute Ablenkung, um nicht stumpfsinnig zu werden oder das Saufen anzufangen.
Wann haben Sie denn angefangen, sich ganz dem Schreiben zu widmen?
Als ich 55 wurde, bot man mir an, in Frührente zu gehen. Ich griff sofort zu und dachte, jetzt hörst du endlich auf und schreibst nur noch! Und was soll ich sagen, als ich dann frei war, ging gar nichts mehr. Ich saß ideenlos vor diesem Scheißcomputer.
Wie sind Sie da wieder rausgekommen?
Ich habe mir verschiedene Jobs gesucht, habe etwa Schiebetüren für Regalsysteme gebaut, Stücke für ein Puppentheater geschrieben und Pfannkuchen in Kindergärten und Schulen gebacken. Ich musste ja auch Geld dazu verdienen, denn von meiner Rente allein konnten wir nicht leben. Die Kinder waren noch in der Ausbildung. Als ich dann wieder unterwegs war, hier und dort arbeitete und mit vielen Leuten zu tun hatte, ging es plötzlich auch wieder mit dem Schreiben.
Weil Sie nicht mehr Schreiben mussten?
Ich glaube, mir fehlte ohne Arbeit einfach ein Gegenpol. Vorher hatte ich tagsüber das Rationale in meinem Beruf als Ingenieur, ich musste funktionieren. Abends aber konnte ich dann so richtig schön rumspinnen. Und als das eine wegfiel, ging auch das andere baden.
Sie haben die Bedeutung des ungeliebten Jobs unterschätzt?
Absolut! Ich glaubte, ich würde zu den wenigen gehören, die es hinkriegen, weil ich ja schon immer nebenher etwas anderes gemacht hatte. Aber das war ein Irrglaube. Drei, vier Wochen hat man das Urlaubsgefühl und dann kommt das riesige Loch.
Wie arbeiten Sie heute?
Meine Frau und ich sind viel nach Dänemark gefahren. Dort, zwischen den Dünen, konnte ich sehr gut schreiben. Zu Hause habe ich tagsüber zu viel zu tun und ziehe mich dann abends so von 7 bis 1 Uhr zum Schreiben zurück. Also alles wie früher: tagsüber arbeiten und abends schreiben.
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