Kongress der Spaziergangswissenschaftler: Wir sind die Landschaft
Stelldichein der Spaziergangswissenschaft: Der Kongress "Gut zu Fuß" vereinte erstmals internationale Beiträge.
Die Spaziergangswissenschaft ist wohl das, was manche ein Orchideenfach nennen würden. Und sie treibt ja auch wirklich die schönsten Blüten.
Entwickelt hat sie der Schweizer Soziologe und Planungstheoretiker Lucius Burckhardt (1925 bis 2003) in den Achtzigerjahren in der Documenta-Stadt Kassel, wo er im Fachbereich Architektur, Stadt- und Landschaftsplanung lehrte. Die von ihm begründete Wissenschaft untersucht die Fallstricke unserer Wahrnehmung und Mobilität sowie deren Auswirkungen auf das Planen und Bauen. Burckhardt selbst war überzeugt davon, dass man erst lernen müsse, Landschaft wahrzunehmen, und zwar sowohl historisch als auch individuell. Tatsächlich sehen wir ja nur das, was wir zu sehen gelernt haben.
Martin Schmitz, Schüler von Burckhardt und Herausgeber seiner Schriften, veranschaulicht das anhand kleiner Kinder, die beim Spazierengehen noch unbefangen reagierten, indem sie selbst Dreck und Schmutz gierig betrachteten, während vermeintlich Erwachsene längst gelernt hätten, ihn links liegen zu lassen.
Als Kurator des ersten internationalen Kongresses der Spaziergangswissenschaft "Gut zu Fuß" in Frankfurt am Main, veranstaltet vom Umweltamt der Stadt, fragte Schmitz mit Burckhardt "Warum ist Landschaft schön?" Die Antwort blieb er zwar schuldig, machte aber dennoch deutlich, dass Landschaftsideale gesellschaftlichen Moden unterliegen, die unsere Sehnsucht nach Idyllen befriedigen.
Die Geografie gerät dabei oft zur Nebensache: Künstliche Tropenparadiese in Deutschland, Amsterdamer Grachten in der Türkei und Skilaufparadiese in der Wüste sind Beispiele einer Alles-geht-überall-Strategie, die sich die Welt macht, wie es ihr gefällt. Den Rest erledigen die entsprechenden Fotobearbeitungsprogramme am heimischen PC. Urlaubsfotos werden kurzerhand von ungeliebten Objekten, seien es ins Bild ragende Strommasten oder Touristen, bereinigt.
"Landschaft ist nur ein Konstrukt", war sich Lucius Burckhardt sicher und wähnte sie nicht in der Umwelt selbst, sondern in den Köpfen der Betrachter. Darauf anspielend erhielten alle Kongressteilnehmer gelbe Anstecker in Form eines Ortsschildes mit der Aufschrift "Landschaft".
Wir sind die Landschaft, auch weil wir sie, je nachdem wie wir uns bewegen, anders wahrnehmen, wobei Wahrnehmen naturgemäß mehr bedeutet als nur Sehen. Das wissenschaftliche Spazierengehen hat nichts gemein mit den Flaneuren des 19. Jahrhunderts, die ihre Schildkröten an der Leine durch die Pariser Passagen führten. Es ist vielmehr eine Betrachtung von Landschaft, egal ob Parkanlage oder Hinterhof, die alle Sinne anknipst. Für Schmitz ist die Spaziergangswissenschaft, auch Promenadologie genannt, darüber hinaus eine Weiterentwicklung der Urbanismuskritik der 60er- und 70er-Jahre.
Die Stadt Frankfurt nutzte die Erkenntnisse der jungen Wissenschaft schon früh und stellte 1991 Wiesen, Felder, Auen, Wälder, Parks und Kleingärten, die sich auf rund 8.000 Hektar um die Stadt ranken, als eigenes Markenzeichen "GrünGürtel" unter besonderen Schutz. Regelmäßig werden dort geführte Spaziergänge angeboten, die das Bewusstsein für Umwelt wie Wahrnehmung schärfen.
Das gelang auch dem zweitägigen Kongress auf dem Campus Westend der Frankfurter Johann-Wolfgang-Goethe-Universität, der Fachleuten, die meisten Architekten und Stadtplaner, wie Laien einen anregenden Rundumblick bot: von der Kulturtechnik des Spazierengehens, die sich erst mit dem Aufkommen des Bürgertums etablierte, bis hin zu den Auswirkungen der Spaziergangswissenschaft - die übrigens im Englischen den ungemein lässigen Titel Strollology trägt - auf die gegenwärtige Stadtplanung.
Dass extreme Mobilität die Wahrnehmungsfähigkeit einschränkt, steht dabei außer Frage. Was kann man noch wahrnehmen, wenn man im ICE hinter abgetönten Scheiben mit 300 Stundenkilometern an der Landschaft vorbeisaust?
Das Spazierengehen als die ursprünglichste und auch demokratischste Art der Fortbewegung bietet da manch einen reizvollen Ausweg, und sei es auch ein Trampelpfad.
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