Konferenz des Goethe-Instituts in Istanbul: "Welten zwischen Türkei und Europa"
Zwischen Kopftuch-Freiheit an den Universitäten und Verbot der Regierungspartei: Eine Konferenz des Goethe-Instituts in Istanbul fragte, in welche Richtung die Türkei driftet.
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An Universitäten in Europa oder den USA ist es längst ein alltägliches Bild, unter den Studentinnen auch Frauen mit islamisch gebundenem Kopftuch zu finden. In der Türkei aber hat diese Aussicht jetzt geradewegs in eine Staatskrise geführt: Nachdem die türkische Regierung im Februar die Aufhebung des strikten Kopftuchverbots an den Universitäten beschloss, reagierte der Generalstaatsanwalt, indem er gegen die Regierungspartei von Ministerpräsident Erdogan ein Verbotsverfahren wegen angeblicher "verfassungsfeindlicher Aktivitäten" einleitete.
Vor diesem Hintergrund erhielt eine Konferenz, die das Goethe-Institut am Wochenende in Istanbul organisiert hatte, besondere Brisanz. Vordergründig ging es um "Menschenwürde und Grundrechte im liberalen Rechtsstaat". Dabei zeigte sich, welche Welten noch immer zwischen der Türkei und Europa liegen. Während im deutschen Grundgesetz etwa dem Schutz der Menschenwürde oberste Priorität eingeräumt wird, besteht in der Türkei traditionell die Tendenz, den Staat vor seinen Bürgern schützen zu wollen. Dies zeigt sich auch in den aktuellen Verbotsverfahren, von denen neben der regierenden AKP auch die prokurdische DTP, also die Hälfte der im Parlament vertretenen Parteien betroffen ist, was in Europa nur noch Kopfschütteln auszulösen vermag.
Der Europarat betrachtet das Verbot von politischen Parteien nur als letztes Mittel und eigentlich nur dann als legitim, wenn diese zur Gewalt aufgerufen haben. Auch wäre es in Deutschland gar nicht möglich, eine Regierungspartei zu verbieten, weil Bundestag, Bundesrat oder die Regierung selbst dies beantragen müssen. In der Türkei dagegen ist der Staatsanwalt quasi gezwungen, ein Verbotsverfahren einleiten, wenn er grundlegende Staatsprinzipien verletzt sieht.
Gleich mehrere Redner auf türkischer Seite bemühten sich, trotzdem Parallelen zwischen türkischer und europäischer Praxis zu finden, indem sie auf die Verbotsverfahren gegen den Vlaams Blok in Belgien, die baskische Batasuna-Partei in Spanien sowie gegen die NPD hinwiesen. Der Jurist Oktay Uygun von der Istanbul-Universität brachte sogar den Begriff der "wehrhaften Demokratie" ins Spiel, der vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit der Nazizeit entstanden sei. Dieser werde in Deutschland aber nur "mit Unbehagen in den Mund genommen", weil er sich für alles Mögliche missbrauchen lasse, wandte Exverfassungsgerichtspräsidentin Jutta Limbach ein.
Andere zeigten sich skeptisch, ob man die Türkei überhaupt als vollwertige Demokratie bezeichnen könne. Zwar ist die Verfassung von 1982, die noch die Handschrift der Putschgeneräle trug, mehrfach geändert und an europäische Standards angepasst worden, besonders der EU-Beitrittsprozess hatte hier einen geradezu revolutionären Reformschub bewirkt. Seit dieser aber stagniere, sei der Reformwille spürbar erlahmt, schränkte Mithat Sancar aus Ankara ein, und mit der Umsetzung hapere es ohnehin. Die Halbherzigkeit äußere sich etwa im Umgang mit der kurdischen Sprache, deren öffentlicher Gebrauch noch immer massiven Beschränkungen unterworfen sei.
Aber auch Justiz und Exekutive zeigten sich oft noch unbeeindruckt vom neuen Geist, wie man an diesem 1. Mai in Istanbul sehen konnte, als Demonstranten von der Polizei brutal niedergeknüppelt wurden. Die Hoffnungen auf eine gänzlich neue Verfassung sind derweil zerstoben. Zwar liegen diverse Entwürfe vor, von Unternehmensverbänden, Anwaltskammern und selbst von der Regierung ausgearbeitet, aber sie liegen auf Eis. Professor Ibrahim Kaboglu von der Marmara-Universität führte das auf das politische Klima zurück: Die Türkei sei eine "Gesellschaft der Angst": Jede Gruppe habe nur ihre eigenen Interessen und Rechte im Auge, und das gegenseitige Misstrauen sei zu stark, um zu einem Konsens zu gelangen.
Einen schönen Beleg für seine These lieferte am nächsten Tag die Philosophieprofessorin Ioanna Kucuradi. Auf die Frage einer Frau aus dem Publikum, inwiefern das Kopftuchverbot an den Universitäten mit den universalen Menschenrechten vereinbar wäre, verglich sie die Kopftuchträgerinnen indirekt mit einer US-Sekte, die einen Massenselbstmord begangen hatte, und degradierte sie damit zu bloßen Opfern religiöser Gehirnwäsche. Besser hätte sie den Paternalismus der säkularen Elite nicht auf den Punkt bringen können.
Das Recht ist in der Türkei traditionell das Recht des Stärkeren: Deswegen reagiert die säkulare Elite so panisch auf ihren schleichenden Machtverlust. Die Zukunft der Türkei aber wird sich bald zwischen einer weiteren Liberalisierung, zu der auch die Freigabe des Kopftuchs an den Universitäten gehört, oder einem autoritären Backlash entscheiden müssen. Der Jurist Mithat Sancer allerdings fürchtet einen dritten Weg: dass islamisch-konservative Bewegung und autoritärer Staat ihren Machtkampf mit einen Burgfrieden beenden könnten, der auf Kosten der bürgerlichen Freiheiten geht.
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