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KommentarKeine Frage der Ehre

Jürgen Gottschlich
Kommentar von Jürgen Gottschlich

Der Fall Marco hat mit archaischer islamischer Rechtsprechung nichts zu tun. Der Junge sitzt in Haft, weil es Indizien für eine versuchte Vergewaltigung gibt.

N ach G-8-Gipfel und Koalitionskrise hat Deutschland ein neues Sommerthema: das Martyrium eines deutschen Jungen, Marco, in türkischer Haft. Es ist absurd, was in diesen Tagen mal wieder über die Türkei ausgebreitet wird, entweder aus Unwissen, Vorurteilen oder gezielt, um den ungeliebten EU-Kandidaten zu denunzieren. Da wird davon gefaselt, dass ein armer Junge wegen eines unschuldigen Kusses von der islamistischen Sittenpolizei in einen mittelalterlichen Kerker gesteckt wurde.

Bild: taz

Jürgen Gottschlich ist taz Korrespondent in Istanbul. Er war Mitbegründer dieser Zeitung, später war er Inlandsredakteur und in den 90er Jahren Chefredakteur.

Da wird nahe gelegt, die türkische Presse fahre eine große Kampagne für die Ehre der türkischen Justiz. Doch in der Türkei hat es bis gestern nur einen einzigen Kommentar in einer einzigen Zeitung dazu gegeben. Niemand interessiert sich für den Fall. Das gestrige Interview der Hürriyet mit Marco W. kam auf Anregung des mit dem Hürriyet-Chefredakteur Ertorugl Özkök befreundeten Bild-Chefs Kai Diekmann zustande. Von einer Kampagne kann also keine Rede sein.

Der Junge sitzt nicht wegen eines unschuldigen Kusses, sondern weil eine Mutter und ihre 13-jährige Tochter aus England ihn wegen versuchter Vergewaltigung angezeigt haben. Eine medizinische Untersuchung hat Indizien für die Behauptung geliefert. Er sitzt deshalb in U-Haft, weil der Richter bei einem Ausländer ohne festen Wohnsitz und keinerlei Verbindungen im Land nicht ganz zu Unrecht Fluchtgefahr unterstellt. Was würde wohl in Deutschland passieren, wenn eine Mutter und ihre 13-jährige Tochter einen 17-jährigen Türken wegen versuchter Vergewaltigung anzeigen und eine gynäkologische Untersuchung bestätigt, dass offenbar ein Versuch stattgefunden hat?

Auch mit islamischer, archaischer Rechtsprechung hat der Fall nichts zu tun. Er ist das Ergebnis einer großen Strafrechtsreform 2004, bei der, nicht zuletzt auf Druck der EU, die rechtliche Situation von Frauen insgesamt, Vergewaltigungsopfern im Besonderen, verbessert wurde. Nach neuem Recht geht es gerade nicht mehr um die Ehre der Familie, sondern den individuellen Schutz der Frau. Ist das die kulturelle Differenz, auf die die CDU jetzt hinweist?

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Jürgen Gottschlich
Auslandskorrespondent Türkei
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9 Kommentare

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  • MD
    Mehmet Durmaz

    Von Frank Hoffmeier Schreibt: "Man merkt dem Kommentator an, dass er peinlich darum bemüht ist, mit dem Behörden seines Gastlandes auf gutem Fuß zu stehen. Der Kommentar ist Beispiel für einen ganz schlechten und erbärmlichen Journalismus. Pfui Teufel!"

     

    So ähnlich denke ich auch.

    Deutsche haben im allgemeinen sowieso eine Berührungsangst mit Fremden, sei es eine Kultur oder wie hier die Justiz eines anderen Landes. Um nicht als beleidigend zu wirken, versucht der Deutsche vom eigendlichen Thema abzulenken, eher positiv zu sehen. In besonderem Masse, wenn es um die Türken geht. Dabei spielt es keine Rolle, wie der Deutsche in Wirklichkeit denkt.

     

    So jetzt zum Fall:

    Die Justizbeamten haben hie wahrschinlich wenig schuld, da sie möglicherweise das Gesetz vertreten.

    Aber fast jeder Türke versucht instinktiv seinen Staat und seine Justiz zu verteidigen. So haben sie gelernt: Gegenüber Ausland muss man immer zusammenhalten.

    Es interessiert keinen, wie es dem Jungen geht, wo die Gesetzeslücken in türkischer Justiz sind.Wie damals als ein Deutscher vor 2 Jahren wegen Schmugel antiker Gegensteine verhaftet wurde. Dabei sind sie froh, dass Spuren fremderKulturen in der Türkei verschwunden sind.

     

    Türken sind stolz, dass ihre Justiz auch gegenüber Ausland sich unbestechlig zeigt. Änlich sehen auch die Deutschen, nur natürlich nicht angemessen. Dabei war auch die selbe Justiz (bei einem politischen Mord), die die Mörder erst freiliess, als ein General die in frischer Tat ertappten Angeklagten als "gute Jungs" bezeichnete.

     

    Türkische Zeitungen berichten ausserdem mit pornografischen Details über diesen Fall (Hürriyet), im Gegensatz des Verfassers.

     

    Ich denke, wir sollten versuchen, die Gesetzeslage uns besser klar zu machen und dem Opfer beizustehen.

     

    Man sollte diesen Fall nicht dazu missbrauchen als sei türkische Justiz unbestechlich. Auch nicht gegen Türken Stimmung zu machen.

  • JT
    Jörg Tiedemann

    Jürgen Gottschlich hat in seinem Kommentar nicht erwähnt, dass Marco W. - wie auch auf manchen Fotos erkennbar - an Neurodermitis leidet und die Behörden es nicht zulassen, dass ihm die erforderlichen Medikamente ins Gefängnis geliefert werden. Ich leide selbst an dieser Hautkrankheit und würde es meinem ärgsten Feind nicht wünschen, die geschundene Haut nicht wenigstens einsalben zu können.

  • GS
    Günther Schmeidler

    Eigentlich müßte auch die Mutter auf die Anklagebank wegen Verletzung der Aufsichtsplicht bei einem 13 jährigen Kind. Aber das gibt es wohl in der Türkei nicht. Oder ?

  • FH
    Frank Hoffmeier

    Der Kommentar von Gottschlich schadet einem im Ausland in Not geratenen Deutschen! Die Überschrift ?Der deutsche Marco W. sitzt zu Recht in türkischer Haft? ist eine unerträgliche Vorverurteilung. Die öffentliche Erregung zu diesem Fall als Faselei zu bezeichnen, zeugt von der Arroganz und Menschenverachtung des Kommentators. Außerdem: Woher will er wissen, dass eine medizinische Untersuchung Indizien für die Behauptung geliefert hat. War er bei der Untersuchung dabei? Ist er ein Mediziner oder plappert Herr Gottschlich nur ein Gutachten nach, dass er aber erstaunlicherweise nicht zitiert hat. Man merkt dem Kommentator an, dass er peinlich darum bemüht ist, mit dem Behörden seines Gastlandes auf gutem Fuß zu stehen. Der Kommentar ist Beispiel für einen ganz schlechten und erbärmlichen Journalismus. Pfui Teufel!

  • AZ
    Anke Zöckel

    Dieser Artikel tut zwar gut, ist aber im Grunde auch nicht informativ. Kein Wunder: Ob es sich beim "Fall Marco W." um ein "harmloses Techtel-Mechtel unter Teenagern" oder doch um eine versuchte Vergewaltigung handelt, kann nicht beurteilen, wer nicht dabei war.

     

    Sicher sind mehrere Wochen Gefängnis extrem unangenehm. Zumal in einem fremden Land. Das Gericht aber, das womöglich irgendwann mit der Klärung des Sachverhaltes befasst werden wird, ist auch nicht zu beneiden. Und in der Haut der britischen Mutter möchte ich erst Recht nicht stecken, falls sich ihre um ein Haar diplomatische Verwicklungen ausgelöst habende Anzeige als pure Hysterie entpuppen sollte. Leid tut mit einstweilen vor allem die türkische Justiz. Die mämlich war nach erfolgter Anzeige tatsächlich zum Handeln gezwungen, obwohl ihr klar gewesen sein muss, dass sie sich damit zwischen alle Stühle setzen würde.

     

    Eine Zeitung jedenfalls, die sich der "wahrheitsgemäßen Berichterstattung" verschrieben hat, würde in diesem Fall vorerst eindeutig ihre Kompetenzen überschreiten, wollte sie bereits Sympathiepunkte verteilen (lassen). Würde es also nicht nötig scheinen, einer tendentiösen Berichterstattung (die nicht wunder nimmt, falls tatsächlich Kai Diekmann sich "eingebracht" hat) etwas entgegen zu halten, müsste sich die taz meiner Meinung nach hier extrem zurücknehmen. Zumal ja bisher offenbar keinem der Beteiligten ein ernst zu nehmender Schaden entstanden ist. Da sich der Meinungsbildungsprozess allerdings gestaltet wie er sich gestaltet (mitunter wird die Wahrheit auch ohne Krieg zum Opfer), ist der Artikel gerechtfertigt. Danke also dafür.

  • TS
    Thomas Schmelzer

    Von "versuchter Vergewaltigung" kann kaum die Rede sein, wenn ein 13-jähriges Mädel vorgibt sie sei zwei Jahre älter und sich dann einer Liebelei hingibt.

     

    Was hier als großes Politikum aufgebauscht wird, passiert unter Sonne, Sand und Palmen jeden Tag - eine harmloses Techtel-Mechtel unter Teenagern!

  • US
    Ugurlu Soylu

    Sehr geehrter Herr Gottschlich,

     

    als Türke nehme ich die Desinformationskampagne um diesen Fall sehr viel intensiver wahr. Es ist zum verzweifeln mit wieviel Einseitigkeit, Ignoranz und Opferverachtung über diesen Fall berichtet wird. Ich danke Ihnen für Ihre ausgeglichenen, von subtilen und offenen Kulturüberlegenheitsansprüchen freien Kommentar ganz herzlich.

     

    Mit freundlichen Grüßen,

    Ugurlu Soylu

  • ES
    Egon Steinberger

    Bisher war nur die Rede von einer Anzeige durch die Mutter wegen "Missbrauchs", also etwas Fummelei. Lügt jetzt der Spiegel oder die TAZ?

  • T
    Tonguc

    Danke für diesen Kommentar! Der andere Artikel in der taz zu diesem Vorfall war leider sehr pauschalisierend.