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KommentarJetzt hat Erdogan die Wahl

Jürgen Gottschlich
Kommentar von Jürgen Gottschlich

Die Türken haben die APK gewählt. Als Antwort auf die Militärs? Als Manifestation einer Mehrheit? Aus materiellen Gründen? Erdogan muss seinen Führungsstil suchen - und damit antworten.

D ie Türken haben gewählt und der Regierung Erdogan einen historischen Sieg beschert. Man kann das als demokratische Antwort auf die Anmaßung einer militärischen Führung sehen, die mit Drohungen auf die Präsidentschaftswahl Einfluss nahm. Dies ist die bevorzugte Sichtweise von Erdogans AKP. Nach einer anderen Deutung haben die Wähler der AKP die Kampfansage durch den laizistischen Teil der Gesellschaft angenommen und deutlich gemacht, wo die Mehrheiten in der Gesellschaft eigentlich liegen. Vielleicht hat die Masse der WählerInnen auch einfach pragmatisch geschaut, wo ihre materiellen Interessen liegen, und sich dann für die AKP entschieden.

Bild: taz

Jürgen Gottschlich ist taz Korrespondent in Istanbul. Er war Mitbegründer dieser Zeitung, später war er Inlandsredakteur und in den 90er Jahren Chefredakteur.

Für die Zukunft des Landes ist es nun entscheidend, für welche der drei Interpretationen sich Tayyip Erdogan und die Führung der AKP entscheiden. Denn davon vor allem wird die Strategie der kommenden Regierung abhängen. Konzentriert sich die Regierung auf den Machtkampf mit Militär und bürokratischer Elite, wird sie ihre Wählerschaft als taktische Manövriermasse betrachten und davon ausgehen, dass sie sie beliebig oft mobilisieren kann. In diesem Fall wird Erdogan es bei der Wahl des Staatspräsidenten wieder auf eine Konfrontation ankommen lassen und das Risiko einer erneuten Auflösung des Parlaments in Kauf nehmen.

Dasselbe gilt, wenn die Mehrheit der AKP-Führung glaubt, man hätte sie als die Frommen im Gegensatz zu den Ungläubigen gewählt. Lediglich im dritten Fall wird Erdogan mit seinem komfortablen Wahlsieg im Rücken versuchen, wirklich wieder Stabilität in den demokratischen Prozess und die Institutionen des Landes zu bringen und deshalb einen Ausgleich mit dem vermeintlich anderen Lager suchen. Das würde bei einem Kompromisskandidaten für den Staatspräsidenten beginnen und sich über Frauen- und Bildungsfragen fortsetzen. Der historische Wahlsieg lässt dem Sieger alle Freiheit. Er muss keine Rücksicht auf politische Partner nehmen und ist innerparteilich so gestärkt, dass er fast jeden Schwenk durchsetzen kann.

Für Erdogan und die übrige Führungsriege der Partei kommt deshalb eigentlich erst jetzt, nach dem großen Sieg, die Stunde der Wahrheit.

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Jürgen Gottschlich
Auslandskorrespondent Türkei
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