Kommentar: Wirklich unerträglich
Hartz IV macht Kinder arm. Da helfen auch keine Gutscheine für Schultüten.
"Unerträglich" ist eigentlich eines der Worte, die PolitikerInnen so häufig verwenden, dass man sie gar nicht mehr hören und erst recht nicht mehr verwenden mag. Zumal, wenn sie vor allem dazu benutzt werden, gemeine Angriffe politischer Gegner in beleidigtem Tonfall zurückzuweisen. Doch es gibt tatsächlich Tatbestände, von denen man sich wünscht, dass sie von möglichst vielen PolitikerInnen als "unerträglich" erkannt werden mögen. Ein solcher ist die allmählich dramatischen Umfang annehmende Verarmung von Kindern in Berlin.
Fast acht von zehn Erstklässlern in Neukölln, zirka sieben von zehn in Mitte und immerhin beinahe jeder vierte Schulanfänger im gut situierten Steglitz-Zehlendorf müssen mittlerweile von den knappen Mitteln leben, die Hartz IV armen Familien gewährt. Das ist nicht bloß unerträglich, das ist eine Schande, und sollte Bezirks- und Landespolitikern jeder Partei die Schamesröte ins Gesicht treiben.
Angesichts dieser Zahlen wirkt die Debatte darüber, ob man aktuelle finanzielle Notlagen wie jene, die ALG-II-Empfängern bei der Einschulung ihrer Kinder entstehen, mit 50-Euro-Sachgutscheinen, 100-Euro-Extrazuwendungen oder öffentlichen Schulfonds stopfen darf und sollte, fürchterlich hilflos.
Klar hilft es aktuell, denen Extrageld zu geben, die ihren Kindern am ersten Schultag keine Schultüte kaufen können. Und vermutlich ist es sinnvoll, Gutscheine an die auszugeben, von denen zu befürchten ist, dass sie solche Extrazuschüsse anders als in Schulsachen investieren.
Das alles darf aber nicht verschleiern, dass die Lebenssituation von immer mehr Kindern in Berlin inakzeptabel, mit anderen Worten: unerträglich ist. Dass die äußerst knappen Regelsätze des ALG II auch dazu gedacht sind, Leistungsempfänger mit unsanftem Druck aus ihrer Lage zu bringen, mag gesellschaftlich breit akzeptiert werden. Wie sehr sich dieser Druck auf ihre Kinder, auf deren Bildungs- und Zukunftschancen auswirken darf, darüber ist nicht genug diskutiert worden. Wer dazu aber schweigt, darf nicht behaupten, Chancengleichheit sei der Anspruch seiner Bildungspolitik.
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