Kommentar: Das Land trägt Mitschuld
Ursache für die Klageflut gegen Hartz IV ist nicht hauptsächlich ein handwerklich schlecht gemachtes Gesetz, sondern schlechte Arbeit in den Jobcentern.
Berlins Justizsenatorin Gisela von der Aue (SPD) hat die Hartz-IV-Gesetze als nicht praxistauglich kritisiert. "Das Übel liegt darin, dass die gesetzlichen Grundlagen so vermurkst sind, dass es bundesweit zu einer enormen Klageflut an den Sozialgerichten gekommen ist, die nicht abebbt", sagte sie am Wochenende. An Deutschlands größtem Sozialgericht in Berlin waren im Vorjahr von rund 33.000 neu eingegangenen Verfahren mehr als 60 Prozent Klagen gegen die Arbeitsmarkt-Reformgesetze. "Die Reformen sind sinnvoll, aber die Justiz kann nicht der Reparaturbetrieb für schlechte Gesetze sein", sagte von der Aue. Jeder Sozialrichter in der Hauptstadt entscheide jährlich rund 390 Fälle. Um die Klageflut zu bewältigen, will die Senatorin in diesem Jahr zwölf Proberichter zusätzlich einstellen. Die Aufstockung des Personals sei allerdings nur ein Tropfen auf den heißen Stein, sagte von der Aue. "Wir brauchen ein einfach zu handhabendes Gesetz, und wir brauchen Präzisierungen zu abstrakten Rechtsbegriffen." Der Bundestag müsse müsse da schnell Abhilfe schaffen. dpa
Gisela von der Aue macht es sich zu einfach: Wenn die Justizsenatorin behauptet, dass der Grund für die vielen Hartz-IV-Klagen vor dem Sozialgericht ein handwerklich schlecht gemachtes Gesetz ist, dann ist das nur der kleinere Teil der Wahrheit.
Der größere Teil des Problems liegt aber in den Jobcentern. Und das Scheitern der Jobcenter liegt zum größten Teil nicht daran, dass die vom Bundestag beschlossenen Hartz-Gesetze so kompliziert wären, dass man zwangsläufig Probleme bei der Auslegung bekommt. Das Problem ist vielmehr die Überforderung der Mitarbeiter: Sie müssen so viele Arbeitslose betreuen, dass zu wenig Zeit für den Einzelfall bleibt. Sie werden zu schlecht vorbereitet. Und viele Mitarbeiter haben nur befristete Arbeitsverträge und müssen selbst die Arbeitslosigkeit fürchten - keine optimalen Bedingungen für optimales Engagement im Beruf. Die Folge davon ist, dass das Versprechen der Hartz-Reform - Fordern und Fördern - immer noch nicht verwirklicht ist.
Das müssen nun die Sozialgerichte ausbaden. Bei den meisten Klagen dort geht es nicht darum, wie genau ein Gesetz auszulegen ist. Vielmehr ist die Auslegung völlig klar - aber das Jobcenter hält sich nicht dran. In nicht wenigen Fällen ignoriert das Jobcenter die Anträge von Hartz-IV-Empfängern sogar vollständig. Die Bearbeitung des Antrags beginnt dann erst in der Verhandlung vor Gericht.
Auf die Jobcenter hat das Land sehr wohl Einfluss - und es hat ja auch bereits viel dafür getan, die Zustände dort zu verbessern. Die Justizsenatorin sollte eingestehen, dass Berlin auch selbst für die vielen Klagen vor den Sozialgerichten mitverantwortlich ist, und nicht nur mit dem Finger auf den Bund zeigen.
Lesen gegen das Patriarchat
Auf taz.de finden Sie eine unabhängige, progressive Stimme – frei zugänglich, ermöglicht von unserer Community. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!