Kommentar: Die Illusionen der Bürgerarbeit
■ Grüne: Die Lehren aus dem Fall der Ministerin Nimsch
Nein, so wird sich der Soziologe Ulrich Beck den neuen bürgerrechtlichen Aufbruch nicht vorgestellt haben. Auch das wirtschaftspolitische Programm der hessisch-grünen Parteispitze war wohl anders gemeint. Der Sozialstaat müsse umgebaut, der Markt geachtet und Menschen zu mehr Selbständigkeit ermutigt werden – überhaupt sei der Mittelstand entscheidend für die grüne Wirtschaftspolitik. Seit Margarethe Nimschs Rücktritt kennen wir den Realitätsgehalt dieses Credos.
Die grüne Jugend- und Umweltministerin scheiterte mit einem überhasteten Gesetz zum Ehrenamt. Kurz darauf wird bekannt, daß sie (bzw. ihr Haus) Parteifreundinnen Aufträge erteilte, bei denen es um die Motivation zu bürgerschaftlicher Arbeit ging – bzw. darum, im Verbund von Kommunen und mittelständischer Wirtschaft Jugendlichen Ausbildungsplätze zu vermitteln. Beide Parteifreundinnen haben sich als Unternehmerinnen selbständig gemacht und unterhalten „Büros“, die mit der sonst verpönten staatlichen Bürokratie gut zurechtkamen. Der Mittelstand, wie ihn seine grünen Befürworterinnen sehen, ist staatsnah, er scheut die rauhe Luft der Konkurrenz und soll – ein sympathischer Irrtum – soziale Aufgaben übernehmen. Dahinter steht die Idee eines fürsorglichen Mittelstandskapitalismus, der zwischen Staat und Markt interagiert, kommuniziert und moderiert.
Diese Idee ist ein kostbares, weil rar gewordenes Beispiel von Ideologie. Ideologie, so Karl Marx' klassische Definition, sei notwendig falsches Bewußtsein. In unserem Fall: falsch, weil all dies mit Marktwirtschaft nichts zu tun hat – notwendig, weil die grüne Utopie einer freien, femininen und befriedeten Gesellschaft mit der Marktwirtschaft unverträglich ist. Wer beides vereinen will, kann gar nicht anders, als Ideologie zu produzieren.
Aus dem politischen Debakel und honorigen Rücktritt von Nimsch sind für die Grünen indes wirtschaftspolitische Konsequenzen zu ziehen. Es zeigt sich, daß die vielfältigen „bürgergesellschaftlichen“ Vorstellungen stets auf staatliche Alimentierung hinauslaufen. Man mag das modisch als welfare mix bezeichnen, an der harten Wahrheit ändert das nichts. Die ersehnte „Wohlfahrtsgesellschaft“, die den ach so autoritären Wohlfahrtsstaat ablösen soll, trägt sich nicht selbst und wird auch zukünftig sein Klient bleiben. Micha Brumlik Bericht Seite 2
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