Kommentar: Ewiger Status quo
■ Die Duma-Entscheidung übertüncht, daß das System Jelzin überholt ist
Anscheinend ist alles wieder im Lot. Rußland hat einen neuen Premier, die drohende Regierungskrise ist abgewendet, und der Präsident bekam seinen Willen. Die Duma muß nicht fürchten, vorfristig aufgelöst zu werden, und der kommunistischen Opposition blieb eine Schmach erspart. Sie blieb mehrheitlich der Abstimmung fern, wahrte das Gesicht einer standfesten Alternativkraft und kam ungeschoren davon. Somit gibt es im monatelangen Gerangel um die Nachfolge Tschernomyrdins eigentlich nur Gewinner. Und das ist das Erschreckende. Die Trophäe trägt der Sieger – Status quo – davon.
Mehr als deutlich haben die letzten Händel bewiesen, daß Rußlands politisches System mit dem eigensinnigen Zaren an der Spitze sich nur qualvoll, schwerfällig bewegen läßt. Es reagiert nur, wenn sich der Gebieter auf die andere Seite wälzt, und gibt dem Druck der verlagerten Last nach.
Auf diesem Prinzip beruht Rußlands relative Stabilität, die für die Übergangsperiode nicht nur unverzichtbar, sondern auch ein Segen war. Wohl instinktiv hat der Präsident richtig gehandelt. Doch inzwischen wirkt das Institut des unfehlbaren Patriarchen hemmend. Einige Bereiche der Gesellschaft entwickelten einen eigenen energischen Rhythmus. Nicht so das politische Institutionengefüge, hier herrscht lähmender Stillstand.
Die Legislative verfügt mit Ausnahme der liberalreformerischen Partei Jabloko über keine glaubwürdige Opposition. Und selbst jene hat es nicht geschafft, in den letzten Jahren so etwas wie Führungskompetenz zu erlangen. Ganz zu schweigen von den Kommunisten und ihren Geleitzügen. Für sie sind die trüben Wasser des Status quo lebensnotwendig. Kurzum: Das System blockiert die Bildung einer dringend benötigten Elite.
Auf den ersten Blick bringt der neue Premierminister, der junge Selfmademan Kirijenko, alle Voraussetzungen für einen qualitativen Generationswechsels mit – auch wenn ihm noch das erforderliche Charisma fehlen mag.
Bedenklich stimmt hingegen, daß Präsident Jelzin den Neuling nicht auserkor, um sich von ihm bittere und überfällige Wahrheiten sagen zu lassen, sondern schlicht und einfach, weil Kirijenko über keine Hausmacht verfügt und somit Gefügigkeit garantiert. Trotzdem: Kirijenko begleitet die Hoffnung auf einen Neuanfang. Klaus-Helge Donath
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