Kommentar: Aufschwung für alle?
■ Die Arbeitsmarktzahlen belegen: Die Republik spaltet sich erneut
Die neuen Arbeitsmarktzahlen markierten eine „Trendwende“, schwärmen arbeitgebernahe Sozialpolitiker. Sie haben recht. Es ist allerdings nicht so sehr der positive Trend rückgängiger Arbeitslosenzahlen in ganz Deutschland, der bemerkenswert ist. Vielmehr ist es die Erkenntnis, daß die deutschen Gesamtzahlen nichts mehr aussagen. Sie sind nur noch zu politischer Propaganda gut. Sie suggerieren, es gäbe einen Aufschwung für alle. Verdächtig passend zur Wahl. Ganz so wie 1994. Die jüngste Statistik aus Nürnberg markiert in Wirklichkeit den Punkt, an dem sich die neue Spaltung der Republik zeigt – eine Spaltung in Regionen, vielleicht sogar in Branchen, wo die Leute neue Jobs finden können, und in Landstriche, wo ohne ABM und Lohnkostenzuschußprogramme wahrscheinlich auch in Zukunft nichts mehr geht.
Die Ost-Bilanz fiele noch düsterer aus, würden die Ost-Arbeitsämter nicht in fieberhafter Eile noch vor der Wahl neue AB-Stellen und sogenannte Strukturanpassungsmaßnahmen (SAM) befristet aus dem Boden stampfen. Ost-Regionen, die unter der Deindustrialisierung leiden, sind damit doppelt gedemütigt: Sie leiden nicht nur unter der Wirtschaftsbrache, sondern sind auch noch von den Launen einer wahlfixierten Bonner Sozialpolitik abhängig. Die großen ABM-Projekte schicken Dutzende von Altenbetreuern los, in Obdachlosenküchen werden ABM für „Öffentlichkeitsarbeitsbeauftragte“ eingerichtet, in Berlin schwärmen Dutzende von Fahrgastbetreuern aus. Der ABM- Boom verweist auf die grotesken Verzerrungen auf dem Arbeitsmarkt.
Die Spaltung zwischen Chancenbesitzern und Chancenlosen verläuft allerdings nicht nur zwischen Ost und West. Im Westen geht es eben jenen südlichen Regionen jetzt wieder besser, die traditionell über exportabhängige starke Industrien und eher geringe Arbeitslosenquoten verfügen. Wer schon immer stark war, berappelt sich auch jetzt leichter. Personenbezogene „weibliche“ Dienstleistungsberufe, die eher von der Binnennachfrage abhängig sind, tun sich dagegen schwer.
Die neuen „erfreulichen“ (Helmut Kohl) Gesamtzahlen aus Nürnberg sagen also weniger etwas über eine allgemeine optimistische Sommerstimmung aus, sondern mehr über eine ungleichere Chancenverteilung in der gesamten Republik. Passend zur Wahl. Barbara Dribbusch
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