Kommentar: Vorbildlich mit Tempo 30
■ Die Regel ist da, es fehlt die Akzeptanz
Berlin ist eine Tempo-30-Stadt – und keiner hat's gemerkt. Die Autos poltern übers Kopfsteinpflaster in Prenzlauer Berg und brausen Richtung Alex. Eine autofreundlichere Großstadt als Berlin gibt es in Deutschland nicht.
Daher dachten alle, nach den rot-grünen Koalitionsbeschlüssen bricht in der Verkehrsverwaltung Hektik aus. Denn jetzt geht es den Autofahrern an den Kragen. Pustekuchen. Ausgerechnet der Autoanhänger Klemann kann sich auf die Schulter klopfen: Die Hauptstadt ist in Sachen Tempo 30 vorbildlich. Daß die Stadt diese Regelung nicht Klemann, sondern dem rot-grünen Vorgängersenat zu verdanken hat, wird gerne verschwiegen.
Ratlos fragen sich jetzt jedoch die Gegner der Raserei: Was hat Tempo 30 denn eigentlich gebracht? Bleibt die erhoffte Wende in der Verkehrspolitik trotz neuer Bundesregierung aus? Wer an Tempo 30 als Allheilmittel geglaubt hat, liegt falsch. Die neue Regel bildet nur ein kleines Mosaikstück in einem Gesamtkonzept. Mit Tempo 30 reduziert sich weder die Zahl der Autos, noch bringt es einen Umschwung in Richtung öffentlicher Nahverkehr. Bislang ist nur eines erwiesen: In Tempo-30- Zonen passieren weniger Unfälle – und wenigstens in diesen Straßen fahren Autofahrer mit 50 Stundenkilometern und nicht mit 70, wie auf den Hauptverkehrsstraßen.
Die Entscheidung der Bonner Koalitionäre appelliert an die Vernunft der Autofahrer. Denn weder mit Pollern auf der Fahrbahn noch mit Radarkontrollen ist die Raserei einzudämmen. Die Bundesregierung kann nur die Vorgaben machen, die Einsicht muß schon von den Autofahrern selber kommen. Jeder muß sich fragen, warum die Überschreitung der Höchstgeschwindigkeit eigentlich von allen als Kavaliersdelikt hingenommen wird. Wenn kein Berliner seine Stadt als Tempo-30-Stadt wahrnimmt, liegt das daran, daß sich niemand an diese Regel hält.
Die neuen Vorgaben der Bonner Koalition könnten jedoch dazu führen, daß auf die Dauer Autofahrer tatsächlich langsamer fahren. Denn man sich auch bundesweit an eine Geschwindigkeit von 30 Stundenkilometern gewöhnt hat, wird auch in Berlin jemand mit 50 unangenehm auffallen. Doch dazu braucht es einen langen Atem. Wenn in zehn Jahren alle mit vielleicht nur 30 Stundenkilometern durch die Städte zuckeln, wird man sich dann vielleicht fassungslos fragen, warum um alles in der Welt die Autos früher mit 80 dahinbrausten. Jutta Wagemann
Bericht Seite 19
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