Kommentar: Der Führer ist weg, das Problem bleibt
■ Rom: Öcalan ist mit unbekanntem Ziel abgereist
Seufzer der Erleichterung in Italien und Deutschland. Öcalan ist weg, die Affäre glimpflich zu Ende gegangen. Doch das Schulterklopfen zwischen Rom und Bonn verdeckt zweierlei: In Rom wird man nicht vergessen, daß die Deutschen in diesem Fall den Schengen-Test nicht bestanden haben, weil sie Öcalan entgegen aller Absprachen in Italien einfach nicht abholten. Zweitens ist mit Öcalans Abgang weder das kurdische Problem gelöst noch das türkisch-europäische Verhältnis geklärt.
Bis zu Öcalans Eintreffen in Rom war die Kurdenfrage eine humanitäre Angelegenheit in einem fernen Land, die man gelegentlich gegenüber türkischen Ansprüchen ins Spiel bringen konnte. Sein Aufenthalt machte sie zu einem europäischen Problem. Auch wenn einem der Bote nicht paßte – die Probleme sind echt. Nun zu hoffen, daß mit Öcalans Abgang auch die kurdische Frage wieder in Vergessenheit gerät, wäre fahrlässig. Der Konflikt wird die EU früher oder später wieder einholen. Deshalb steht jetzt eine internationale Konferenz zur Kurdenfrage auf der Tagesordnung.
Bisher hat sich in der überwiegend kurdisch bewohnten Region der Türkei noch nichts getan. Der Konflikt ist vorläufig militärisch entschieden, die PKK besiegt. Doch Reformen lassen auf sich warten. Weder ein ökonomisches Hilfsprogramm für die verarmte Region noch ein politisches Programm für die kulturelle Integration der kurdischen Minderheit ist bisher in Arbeit. Mit Geld, konstruktiven Vorschlägen und nicht nachlassendem Druck könnte Europa hier viel bewirken.
Für die PKK ist die mehr oder weniger erzwungene Ausreise Öcalans aus Europa eine Niederlage. Öcalan hatte gehofft, in Rom sein Image so verändern zu können, daß er zum international anerkannten politischen Führer der Kurden in der Türkei werden könnte. Darauf hatte er seine Anhänger eingestimmt, darauf basierte das Konzept der PKK. Wie Arafat einst von Tunis aus, wollte Öcalan von Rom aus seine Rückkehr vorbereiten.
Wo immer Öcalan landet – diese Hoffnung dürfte sich erledigt haben. Die Konsequenzen sind schwer kalkulierbar. Möglich, daß die PKK sich jetzt in Fraktionskämpfen verschleißt, möglich, daß sie ihre jungen KämpferInnen als Selbstmordattentäter in türkische Großstädte schickt. Vieleicht geschieht beides. Sicher ist nur: Das kurdische Problem bleibt.
Jürgen Gottschlich Bericht Seite 5
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