Kommentar: Gullivers Entfesselung
■ Wiederaufbereitung: Trittin muß das Widerspruchsknäuel auflösen
Sich an Paradoxien zu weiden, ist seit Jahren Lieblingssport des postmodernen Intellektuellen. Jürgen Trittin gehört Gott sei Dank nicht zu dieser Spezies. Er ist ausgezogen, der Politik Entscheidungsraum zurückzuerobern. Er sprang per Köpper ins Wasser. Aber seitdem die Koalition den raschen Ausstieg aus der Plutoniumwirtschaft angeht, drohen die inneren und äußeren Widersprüche dieser Politik Trittin einzuschnüren wie weiland Gulliver.
Während Joschka Fischer allenthalben Lob einstreicht für staatsmännische Haltung, gilt Trittin schon nach wenigen Wochen in der westlichen Öffentlichkeit als Inbegriff des neuen häßlichen Deutschen. Nationalismus plus Ökodogmatismus – so der Tenor. Trittins Initiative läßt schon jetzt die Vorwürfe aus England und Frankreich und möglicherweise morgen die abgebrannten Brennstäbe auf uns niederprasseln.
In Trittins Fall ist der gegenüber Rot- Grün nicht ganz unberechtigte Vorwurf hemdsärmliger nationalistischer Praktiken absurd. Weder geht er mit übertölpelnder, unziemlicher Hast vor, denn der baldige Stopp der Wiederaufbereitung ist Voraussetzung für einen Ausstieg aus der Atomwirtschaft auf mittlere Sicht. Noch vernachlässigt er die Interessen der Betreiber von Sellafield und La Hague. Die Regierung stellt sich nicht auf den engen Rechtsstandpunkt der salvatorischen Klauseln in den abgeschlossenen Verträgen. Sie bietet Kompromisse an. Sie schwenkt den Geldsack, besteht allerdings auf dem politischen Ziel. Sie wird sich teils freikaufen, teils den Rücktransport der Brennstäbe und des sonstigen Atommülls in die Länge strecken. So läuft nun mal die Politik in unseren Breitengraden.
Viel schwieriger wird's an der inneren Widerspruchsfront. Wo soll zwischen-, wo und wie endgelagert werden und vor allem: Wie kann die Fracht in Deutschland an ihre Bestimmungsorte gelangen ohne massiven Zusammenstoß mit den Castor- Blockierern? Ist deren Argument, das Kernproblem der Atomwirtschaft sei eben die Unmöglichkeit sicherer Endlagerung, nicht zwingend? Vor Trittin und seinen Freunden steht die schwerste aller Aufgaben. Er muß den eigenen Leuten klarmachen, daß sie für etwas Verantwortung übernehmen müssen, woran sie gänzlich unschuldig sind: für die (bleibend gefährlichen) Folgen von 25 Jahren verfehlter Energiepolitik in Deutschland. Christian Semler
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