Kommentar: Im Westen Neues
■ Berlin und seine wahrhaft blühende Zukunft
Kanzler Kohl zeigte sich lernfähig. Das Wort von den „blühenden Landschaften“ nahm er irgendwann einfach nicht mehr in den Mund. Großspuriger noch träumte der Berliner CDU-Politiker Volker Hassemer von Berlin als Speerspitze der Modernität.
Und noch heute verspricht der Ex-Senator den Berlinern, „in zehn Jahren“ werde ihre Stadt die „modernste der westlichen Welt“ sein. Und Wolfgang Branoner, dem die Gnade des späten Senatorenamts solche Reminiszenzen an frühere Versprechen erspart, zählt auf: Büroklötze, Bahntrassen, Glasfaserkabel. So weit die Hardware. Aber die Software?
Welche Köpfe sind es, die den Aufbruch verkörpern? Vordenker Hassemer weiß es: Kein anderer als Eberhard Diepgen „kann es sich zutrauen, eine radikale Verjüngung anzuführen“. Und in welche Himmelsrichtung müssen die Modernisierer ausschwärmen, um in den Jungbrunnen zu hüpfen? Natürlich nach Westen, sagt CDU- Fraktionschef Landowsky. Schließlich sei die Union stolz darauf, das alte Westberlin zu repräsentieren.
Na bravo! Jetzt werden die Zukunftsforscher ausschwärmen. Sie werden nachts die düsteren, menschenleeren Straßen Charlottenburgs bevölkern und in halbleeren Kneipen die Zukunft der westlichen Welt studieren. Auf der Suche nach dem Design des 21. Jahrhunderts werden sie sich in Neuköllner Einrichtungshäusern wuchtige Couchgarnituren und zentimeterdicke Auslegeware zeigen lassen. In Weddinger Eckkneipen können sie das Abrutschen von der Zivilisation ins kollektive Delirium beobachten. Der Ball der Fleischerinnung im plüschigen Palais am Funkturm öffnet ihnen die Augen für neue Formen populärer Kultur, nachdem sie zuvor in der Deutschen Oper avantgardistische Inszenierungen aus den 70er Jahren bewundert haben. Sie werden sich hüten, in der Bäckerei mit großen Scheinen oder mit Kleingeld zu bezahlen, denn die Rache der dienstleistenden Fachverkäuferin wird fürchterlich sein.
Am Ende werden die Zukunftsforscher aus allen Winkeln der westlichen Welt in ihre Heimat zurückkehren, ihrem Beruf abschwören und hoffen, daß sich die Zukunft noch ein paar Jahrzehnte Zeit läßt. Ralph Bollmann
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