■ Kommentar: Charakterrolle Schröder sagt, was er immer sagt – aber in neuer Tonlage
Vor allem ein Ziel scheint Gerhard Schröder bei seinem ersten Auftritt vor der Bundespressekonferenz im Auge gehabt zu haben: die Kritiker in den eigenen Reihen zu besänftigen. Mehrfach ist ihm seit seinem Amtsantritt vorgeworfen worden, in Fragen der Historie unsensibel und großspurig zu agieren. Gestern, am 60. Jahrestag des deutschen Überfalls auf Polen, sprach er von der Verpflichtung, die Geschichte nicht zu vergessen.
Dem Genossen der Bosse liege nichts an sozialer Gerechtigkeit, ist von Gewerkschaften und der SPD-Linken zu hören. Gestern hat Schröder für das Sparpaket von Finanzminister Hans Eichel, das er lieber Zukunftsprogramm genannt wissen will, vor allem mit dem Argument der sozialen Gerechtigkeit geworben: Der hohe Schuldendienst, den der Staat leisten müsse, stelle die wahre Umverteilung von unten nach oben dar.
In der Sache hatte Schröder der Öffentlichkeit wenig Neues zu sagen, und er ließ auch keine inhaltliche Kompromissbereitschaft erkennen. So war weniger interessant, was der Kanzler sagte, als vielmehr, wie er es sagte. Nichts war gestern von der spöttischen Arroganz zu spüren, die Schröder bisher für die einzige Form des Umgangs mit Kritikern zu halten schien. Auch der oftmals ebenso enervierende wie unverwüstliche Frohsinn des Regierungschefs machte gestern seriöser Ernsthaftigkeit Platz.
Er ist halt der geborene Staatsschauspieler, mögen Skeptiker nun einwenden, und er hat begriffen, dass so kurz vor zwei wichtigen Landtagswahlen nicht die Boulevardkomödie, sondern das Charakterfach auf dem Spielplan stehen muss. Vielleicht. Es muss jedoch immerhin einen Anlass gegeben haben, der ihm zu dieser Einsicht verholfen hat.
Gerhard Schröder braucht die sogenannten Traditionalisten in der eigenen Partei und in den Reihen der SPD-Stammwählerschaft nicht zu mögen, aber er ist auf sie angewiesen, wenn er im Amt bleiben will. Sehr weit muss er denen, die mit seinem Kurs nicht einverstanden sind, vermutlich gar nicht entgegenkommen. Schließlich haben sie seit dem Rückzug von Oskar Lafontaine keine personelle Alternative mehr. Aber mit offen zur Schau getragener Verachtung der eigenen Anhänger lassen sich keine Wahlen gewinnen. Schröders Auftritt gestern ist ein zaghafter Hinweis darauf, dass er das verstanden haben könnte. Bettina Gaus
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