Kommentar: Einbürgerung ist Klasse ■ Die interkulturelle Gesellschaft wird nicht diskutiert
Es ist enttäuschend. Da quält sich die Nation zu einer Reform des Staatsangehörigkeitsrecht und dann das: „Absolut kein Andrang in den Behörden.“ – „Die Euphorie hält sich in Grenzen.“ Der Nachrichtenticker spuckt Neues aus den Einwohnermeldeämtern der Republik wie Wasserstandsmeldungen aus. Denn wir Altbürger haben ein Recht zu erfahren, ob sich der ganze Zinnober um das Gesetz gelohnt hat, die Ausländer es dankbar annehmen.
Sie tun es. Zumindest in Schleswig-Holstein. Dort ging die erste Einbürgerungsurkunde an eine iranische Rechtsanwältin. Sie ist glücklich: „Ich fühle mich jetzt gleichberechtigt behandelt.“ Sie weiß was: „Integration fängt erst mit Einbürgerung an.“ Und sie leitet das Kieler Folteropferzentrum Refugio. Fehlt eigentlich nur noch ein Moped, wie man es 1964 an Armando Sa Rodrigues, den einmillionsten Gastarbeiter, in Köln-Deutz überreicht hat.
Rodrigues hat sein Ruhm wenig gebracht. Und Deutschland sollte noch 35 Jahre brauchen, bis es mit der Reform des Staatsbürgerrechts vormodernes Denken überwunden hat. Auf der Höhe der Zeit ist das Land damit aber nicht. Angesichts des Niveaus der Debatte um die Entwicklung einer interkulturellen Gesellschaft besteht wenig Hoffnung. Denn Deutschlands Intellektuelle bleiben in ihrem Deutschsein gefangen. Und das bedeutet für die Mehrheit, Ausländer Klasse zu finden. Aus historischer Verantwortung zum Beispiel. Aber kein namhafter Intellektueller hat in den letzten Jahren einen entscheidenden Diskussionsbeitrag zur interkulturellen Gesellschaft in Deutschland geleistet. Und tun es Leute wie Günter Grass doch einmal, dann mündet es in der altbekannten Moralsauce. Aber Moral ist nichts, was eine der Kernfragen beantwortet: Brauchen wir einen neuen Bildungs- und Kulturbegriff, der die durch Einwanderung veränderte Bevölkerung des Landes erfasst?
Diskussionen wie diese sind es, die wir nun bräuchten, und nicht die selbstgefällige Zählerei von Einbürgerungsanträgen. Die kommen aber erst in Schwung, wenn die Mehrheit begriffen hat, dass sich mit dem neuen Staatsbürgerrecht auch ihr Selbstverständnis vom Deutschsein grundlegend ändern muss. Dies stellt wie bereits die Wiedervereinigung die Republik auf ein neues Fundament.
Eberhard Seidel
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