Kommentar: Unannehmbar ■ Vorschlag zur Zwangsarbeiterentschädigung verhöhnt Opfer
Wie führt man am klügsten Verhandlungen, an deren Ende Geld verteilt werden muss? Henry Kissinger unterrichtet uns in seinen Memoiren, dass es im Wesentlichen nur zwei Methoden gebe: die maximalistische, bei der man von einer Ausgangsposition sich feilschend auf einen Mittelwert zubewegt; und die realistische, bei der man die Positionen des Gegners von vornherein in Rechnung stellt. Kissinger favorisiert mit guten Gründen die zweite Methode. Die deutsche Bundesregierung hat sich bei den Verhandlungen zur Entschädigung der Zwangsarbeiter des Zweiten Weltkriegs auf die erste festgelegt. In dem Entwurf, der dem deutschen Unterhändler Lambsdorff als Verhandlungsgrundlage dienen soll, sind alle Elemente enthalten, die für die osteuropäische wie für die amerikanische Seite schlechterdings unannehmbar sind.
Diese Tatsache ist der Bundesregierung natürlich nicht verborgen geblieben, weshalb sie von vornherein erklärt, so ernst sei es ihr mit der „Anrechnung“ von bisherigen Leistungen auf die Entschädigungssumme nicht, auch über den „Verzicht“ auf künftige weitere Leistungen könne man reden. Schließlich deutet sie an, dass auch die in der Landwirtschaft eingesetzten ArbeiterInnen nicht leer ausgehen müssten – allerdings auf Kosten der anderen entschädigungsberechtigten Gruppen. Was erwartet die Bundesregierung, wenn sie sich, wie vorhersehbar, bei den Verhandlungen von einigen ihrer Positionen zurückzieht? Was immer es sein mag, sie wird es nicht erhalten.
Dafür ist der psychologische Schaden, den die „maximalistische“ Position angerichtet hat, schon jetzt beträchtlich. Denn es geht bei den Verhandlungen zur Entschädigung der Zwangsarbeiter nicht nur um Geld, sondern um späte Anerkennung von Unrecht. Werden ganze Opfergruppen ausgeschlossen, werden frühere Leistungen angerechnet und künftige ausgeschlossen, so sind die Zwangsarbeiter zur taktischen Verhandlungsmasse herabgewürdigt, so wird dem alten Leid neues hinzugefügt, und die Opfer werden ein zweites Mal verhöhnt.
Über all den Verhandlungsrunden samt ihren taktischen Finessen ist längst in Vergessenheit geraten, dass wir die überlebenden Zwangsarbeiter um unserer selbst willen hätten entschädigen müssen. Damit wir uns morgens ins Gesicht sehen können. Christian Semler
Bericht Seite 7
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