Kommentar zu Lars von Trier: Der Zwang zum Obszönen
Mit Nazi-Vergleichen lassen sich mediale Aufmerksamkeitswogen in Gang setzen. Noch im zwanghaften Tabuverstoß spiegelt sich verzerrt das Monströse dieses Verbrechens wider.
E s ist es naheliegend, auf das saloppe Bekenntnis des Regisseurs Lars von Trier - "Ja, okay, ich bin ein Nazi" - mit moralischer Empörung zu reagieren. Oder, wie das Festival in Cannes, mit Rauswurf. Das wirkt konsequent. Klug ist es nicht. Denn die Empörung ist ja Teil dieses Spiels.
Nur mit Nazi-Vergleichen lassen sich noch mediale Aufmerksamkeitswogen in Gang setzen. Mit Sympathiebekundungen für Stalin oder Papst-Beschimpfungen ist das schwieriger.
Bei von Trier, der Tabus zu verletzen zu seinem Beruf und ästhetischen Prinzip gemacht hat, erscheint die Nazi-Provokation nur halb gezielt zu sein. Von Trier ist auf der Pressekonferenz in Cannes eher in diesen Satz hineingestolpert. Obwohl er selbst bemerkte, in welchen Abgrund er geriet, schien er seine assoziativen, etwas konfusen Satzreihen einfach nicht stoppen zu können.
STEFAN REINECKE ist Parlamentsredakteur der taz.
Ähnliches mag jenen Berliner Philharmoniker angetrieben haben, der in Tel Aviv seine Hotelrechnung 1997 mit Adolf Hitler unterschrieb und sich so um Job und Ruf brachte. Um so etwas zu verstehen, hilft vielleicht ein Blick ins Wörterbuch der Psychiatrie. Es gibt Menschen, die ohne Anlass mitten in einem Gespräch obszöne Worte sagen. Wer unter diesem Symptom namens Koprolalie leidet, steht unter dem Zwang, Obszönitäten auszusprechen und Tabus zu verletzen.
Nun ist Lars von Trier kein Fall für die Psychiatrie (auch wenn manche seiner Schauspielerinnen das anders sehen). Er ist kein willenloses Opfer, sondern verantwortlich für seine Worte. Jenseits des individuellen Falls zeigt diese Affäre aber, dass der Holocaust - als universell gültiges Zeichen für organisierten Massenmord und entfesselte Bösartigkeit - von einer Art Koprolalie-Syndrom begleitet wird. Es gibt offenbar einen fast unwiderstehlichen Reiz zu verbalen Obszönitäten. Noch im zwanghaften Tabuverstoß spiegelt sich verzerrt das Monströse dieses Verbrechens wider.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Gewalt an Frauen
Ein Femizid ist ein Femizid und bleibt ein Femizid