Kommentar von Žan Vidmar Zorc zum Schulsystem: Humboldts blinder Fleck
Über 200 Jahre ist es her, dass Wilhelm von Humboldt das deutsche Schulsystem grundlegend reformiert hat. Die Idee seiner humanistischen Bildung war es, jedem Menschen das Wissen und die Fähigkeiten zu vermitteln, die für ein selbstständiges, lebenslanges Lernen nötig sind. So weit, so gut. Nicht berücksichtigt hat er, dass jeder Mensch unterschiedliche Talente hat. Und das spiegelt sich auch in unserem Schulsystem wider. Platz für individuelle Entwicklung gibt es kaum.
Statt die Neugier von Kindern durch stumpfen Frontalunterricht zu erschlagen, sollte deren Kreativität erhalten und bestärkt werden. Stärken und Schwächen müssen individuell gefördert werden, sodass alle die wichtigen Grundlagen lernen, sich aber ihren Interessen entsprechend entwickeln können. Dabei geht es auch um handwerkliche Fertigkeiten, die an Gymnasien üblicherweise nicht zu finden sind.
Um Kinder zu mündigen, aufgeklärten BürgerInnen zu erziehen, die eine eigene umfassende Persönlichkeit haben, muss aber auch der Unterricht entsprechend ausgelegt sein. Für das Erreichen dieser Bildungsziele reicht es eben nicht, die Kurvendiskussion perfekt zu beherrschen. Sondern es braucht auch ein Verständnis für Ethik, Moral und gelebte Demokratie. Denn wenn dieses Verständnis fehlt, können Folgen des eigenen Handels nicht ausreichend abgeschätzt und in den Entscheidungsprozess aufgenommen werden.
Eine Alternative zum ursprünglichen dreigliedrigen System wäre die integrierte Gesamtschule. Dort werden alle SchülerInnen gemeinsam unterrichtet und nur in einigen Fächern nach Leistung in Kurse aufgeteilt. Dieses gemeinsame Lernen soll auch dazu beitragen, dass das gesellschaftliche Zusammenleben besser funktioniert. Zweigliedrige Schulsysteme sind ein Anfang, wie es sie mittlerweile etwa in Bremen und in Hamburg gibt, wo neben dem Gymnasien auch die Oberschulen zum Abitur führen.
Aber es sollte weiter gehen: Ein flächendeckender Wechsel zur integrierten Gesamtschule, gepaart mit einem flexibleren Lehrplan, der neben dem nötigen Allgemeinwissen auch die Persönlichkeitsbildung und die individuellen Stärken und Schwächen berücksichtigt, wäre ein richtiger Schritt – auch im Sinne des humanistischen Bildungsideals.
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