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Kommentar von Anja MaierHelden wie wir und ihr

Stellen Sie sich vor, Boris Becker wäre gestorben. Oder Claudia Roth. Oder Helmut Kohl. Na gut, Helmut Kohl ist schon vor zwei Jahren verstorben. Das gibt Ihnen die Gelegenheit, sich zu erinnern, was damals los war. Dem Langzeitkanzler wurden monothematische Zeitungstitel und lange Magazinstrecken gewidmet, im Fernsehen liefen Sondersendungen, an den Küchentischen der Republik erzählte man ein­ander Kohl-Erinnerungen. Ob im Guten oder im Unguten, das spielte keine große Rolle. Helmut Kohl war eine Identitätsfigur der Bundesrepublik.

Am Wochenende ist Sigmund Jähn verstorben. Er war der erste Deutsche im All, 1978 kreiste er sieben Tage lang in einer sowjetischen Raumkapsel um die Erde, die er seitdem als „zart und zerbrechlich“ beschrieb. Er war: ein Held. Und trotzdem sagt sein Name vielen Menschen im wiedervereinigten Deutschland kaum etwas; von Gefühlen, zu teilenden gesamtgesellschaftlichen Erinnerungen gar kann keine Rede sein. Das könnte daran liegen, dass Jähn nicht nur der Mann des Weltalls war, sondern auch Ostdeutscher und Oberstleutnant der Nationalen Volksarmee. Zudem war er, das nur nebenbei, bis zu seinem Lebensende ein angesichts seiner Verdienste um die bemannte Raumfahrt fast schon verdächtig bescheidener Mensch.

Jähns Tod und die geteilte Erinnerung an ihn zeigt, dass in diesem Land bei der Würdigung von Lebensleistungen noch immer die große Erzählung der Ostdeutschen fehlt. Das muss sich ändern. Gerade tritt eine ganze Generation ab, die noch erzählen kann – von ihren Hoffnungen, Konflikten, auch den Fehlern, die jedem Leben innewohnen. Wenn sie gehen, bleibt es für immer bei dieser Wisch-und-weg-Bewertung der Vergangenheit der Ostdeutschen, die doch aber untrennbar zur Geschichte des ganzen Landes gehört.

Ja, einer wie Sigmund Jähn hat sich angepasst. Hat Helmut Kohl das nicht? Nach dem Zweiten Weltkrieg haben Millionen im Krieg Geborene auf Millionen Arten nach ihrem Platz in der Welt gesucht. Sie haben Fehler gemacht, Gutes getan, Familien gegründet, ihr Land ein Stück vorangebracht. Manche sind Kanzler geworden, andere Kosmonaut, wieder andere Busfahrerin.

Nach dem Mauerfall wurde leichtfertig von den Westdeutschen abgetan, was die Ostdeutschen geleistet haben. Entwertung machte es leichter, sich nicht interessieren zu müssen für Widersprüche und Uneindeutiges. Und die Ostdeutschen haben nicht selbstbewusst auf ihrem Recht auf ihre eigene Erzählung bestanden.

Sie hatten zu tun, sich anzupassen, aufzupassen. Das rächt sich mittlerweile: politisch, gesellschaftlich, kulturell. Es ist höchste Zeit, allen alles zu erzählen.

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