Kommentar dezentrales Kraftwerk: Neue Ära der Stromwirtschaft
Das Projekt von Lichtblick zeigt, dass erneuerbare Energien "grundlastfähig" sind.
D er Ökostromer Lichtblick mischt zusammen mit Volkswagen den Strommarkt auf: 100.000 dezentrale Kraftwerke sollen bald in Kellern von Privathäusern stehen und jeweils dann laufen, wenn im Stromnetz Bedarf herrscht. Sie sollen damit als Ergänzung zu den erneuerbaren Energien dienen und deren Schwankungen ausgleichen.
Grundsätzlich neu ist das Konzept nicht. Seit dem Boom der erneuerbaren Energien gehört die Idee zum Standardrepertoire eines jeden Energieexperten. Aber gerade das macht die Ankündigung des Hamburger Unternehmens so spannend: Lichtblick will umsetzen, was bislang stets nur Theorie war.
Gleich zwei lähmende Debatten dürften damit auf einen Schlag beerdigt sein. Zum einen widerlegt das Projekt die längst bizarr gewordene Argumentation der Atomlobby, man brauche die Nukleartechnik, weil die erneuerbaren Energien nicht "grundlastfähig" seien. Springen künftig hochflexible Kleinkraftwerke immer dann ein, wenn der Wind schwächelt, verpufft damit das letzte vermeintliche Argument der Atombranche.
Bernward Janzing ist studierter Geowissenschaftler und arbeitet als freier Journalist in Freiburg. Seit Jahren analysiert er die Energiepolitik für die taz.
Die zweite Debatte betrifft die Ökostromer selbst. Denn Lichtblick zeigt, warum ökologisch orientierte Kunden unbedingt den Stromversorger wechseln sollten: um die Strukturen der etablierten Energiewirtschaft aufzubrechen. Leider dominierte stattdessen bislang eine oft kleinkariert geführte Diskussion um Ökostromlabel und darum, wie der wahre Ökostrom definiert ist. Doch Fakt ist, dass der rasante Ausbau von Windstrom und Photovoltaik nicht dem Ökostromhandel zu verdanken ist, sondern dem Erneuerbare-Energien-Gesetz.
Das entscheidende Argument für den Stromwechsel liegt folglich darin, dass Stromgeld umgeleitet wird - weg von den Anbietern, die den Machtstrukturen der Atomlobby verhaftet sind, hin zu jenen, die eine Energiewende wollen. Das Unternehmen Lichtblick - in der Ökoszene manchmal kritisch beäugt, weil es weniger Charme hat als die Elektrizitätswerke Schönau, die aus einer Bürgerinitiative hervorgingen - zeigt mit dem neuen Projekt, dass es die Energiewende ernst meint. Mit dem Konzept hat eine neue Ära der Stromwirtschaft begonnen, die die Luft für die Atomkraft dünn werden lässt. Und dass Lichtblick dieses Projekt auch noch kurz vor der Bundestagswahl lanciert und damit die Atompropagandisten bloßstellt, macht die Sache besonders erfrischend.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen