Kommentar Wirtschaftswachstum: Gefährliche Illusion
Die Wirtschaft ist im zweiten Quartal erstmals wieder um 0,3 Prozent gewachsen. Dennoch sollte dieser Mini-Zuwachs nicht als Wechsel zum Aufschwungspfad interpretiert werden.
Die im Großformat aufgemachte Nachricht wirkt wie ein Befreiungsschlag aus einer kollektiven Depression. Der Absturz der Konjunktur hat ein Ende, die Wirtschaft ist nach einer vorläufigen Schätzung durch das Statistische Bundesamt im zweiten Quartal erstmals wieder um 0,3 Prozent gestiegen. Zweifellos, das Schlimmste scheint überstanden zu sein. Dennoch sollte dieser knapp über der Stagnation liegende Zuwachs nicht als Wechsel zum Aufschwungspfad interpretiert werden.
Es gibt keine ernsthaften Anzeichen für einen Aufschwung nach dem Absturz, also keine Hoffnung auf eine V-Konjunktur. Die insgesamt immer noch hochgradig instabile Wirtschaftsentwicklung könnte eher zu einer W-Konjunktur auf einem insgesamt niedrigen Niveau führen. Einer leichten Besserung kann schnell wieder der Rückschlag folgen. Dafür sprechen mehrere Gründe: Erstens werden in den nächsten Monaten die Insolvenzen vor allem kleinerer und mittlerer Unternehmen weiter zunehmen. Zweitens sind sich alle ernst zu nehmenden Prognostiker einig, dass die Zahl der offenen und verdeckten Arbeitslosigkeit im Herbst deutlich steigen wird. Drittens entlastet zwar die gestoppte Inflation die reale Kaufkraft, doch den Preis der drohenden Deflation zahlen die Unternehmen: Ihre Erlöse verfallen. Zudem wird auf die Senkung der Preise auf breiter Front mit Investitions- und Konsumzurückhaltung reagiert.
Unbestreitbar konnte mit den allerdings viel zu zaghaften öffentlichen Investitions- und Kreditprogrammen und einer expansiven Geldpolitik der tiefe Absturz in die Rezession gestoppt werden. Deshalb wäre ein Ausstieg aus dieser Politik jetzt falsch. Vielmehr sollte eine soziale, ökologische und vor künftigen Generationen verantwortbare Stabilisierungs- und Umbaupolitik der Wirtschaft intensiviert und fortgesetzt werden.
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