Kommentar Wikileaks und USA: Wikileaks nützt den USA
Dank der Veröffentlichungen zeigt sich, dass die USA in der Weltdiplomatie gute Arbeit leisten. Die Weltmacht lebt und gedeiht und kann den Skandal sogar für sich nutzen.
A merika ist nicht nur stark genug, die Veröffentlichung seiner Geheimnisse zu überstehen, es ist auch in der glücklichen Lage, diesen Skandal zum eigenen Vorteil zu nutzen.
"Es ist ein Angriff auf die außenpolitischen Interessen Amerikas", ließ Anfang letzter Woche die gedemütigte Chefdiplomatin Hillary Clinton verlauten, die nicht zum ersten Mal von gelüfteten Geheimnissen geplagt wird. Doch schon wenige Tage später stellte sie fest, dass das, "was wir da gesehen haben, gar nicht so schlimm war".
Verteidigungsminister Gates äußerte sich ähnlich: "Jede andere Regierung dieser Welt weiß, dass die US-amerikanische Regierung Löcher hat wie ein Sieb, das war schon immer so. Trotzdem machen andere Regierungen Geschäfte mit den USA, nicht weil sie uns mögen, uns vertrauen oder denken, dass wir Geheimnisse für uns behalten können, sondern weil es in ihrem Interesse ist." Wenn die US-Regierung so lässig reagiert, sollte man annehmen, selbst sie sehe die Vorteile der Veröffentlichung - trotz manchen Theaterdonners von wegen Straftat und Hochverrat. Auch die US-Verfassung scheint eindeutig: Die Presse darf veröffentlichen, ohne ihre Quellen zu nennen. Die allerdings machen die sich, wie Bradley Manning, im Zweifel strafbar.
ist Direktor von Transatlantic Networks, einem in Königswinter angesiedelten Forschungsverbund. Der promovierte Politologe ist Experte für die europäisch-amerikanischen Beziehungen.
Freie Infos, freie Märkte
Die unverblümten Worte zeigen die Konturen der internationalen Politik in neuer Schärfe. Für Staaten und Völker, die offene Informationssysteme zu nutzen wissen, ist die Sichtung der wahren Gegebenheiten eher von Vorteil. Wird man mit dieser Offenheit nicht fertig, hat man Grund zur Sorge. Freie Märkte und freie Information gehen Hand in Hand.
In den Depeschen begegnet uns eine amerikanische Staatskunst, die sich sehen lassen kann. Die US-Diplomaten setzen sich hartnäckig für ein bisschen mehr Frieden, Freiheit und Wohlstand ein - nicht nur für Amerika, sondern für alle Bewohner des globalen Dorfs. Amerikanische Absichten und Methoden erweisen sich als gar nicht so schlecht, vor allem wenn man sie vergleicht mit denen von Amerikas Gegnern - und Partnern.
Natürlich erleiden amerikanische Diplomaten vorübergehenden Schaden, amerikanische Interessen aber werden unterm Strich gestärkt. Denn kommen die Fakten auf dem Tisch, profitiert Amerika mehr als seine Gegner, deren Kommunikationspolitik eher darauf ausgerichtet ist, das Unangenehme unter den Teppich zu kehren. Daher fiebert die ganze Welt der nächsten Episode aus der Wikileaks-Serie entgegen. Dass Iran gefährlicher als Israel ist, dass die Regierenden in Jemen zugeben, dass sie mit Amerika gegen al-Qaida arbeiten, dass Karsai in allen Zeitungen lesen muss, was für ein riesiges Problem er darstellt, dass Pakistan eher von den Taliban als von Indien bedroht wird - all dies als gegenwärtigen "Istzustand" zu erkennen, kann der Verfolgung amerikanischer Interessen nur hilfreich sein.
Alle buhlen um uns
Die weltweiten Reaktionen auf Amerikas Kabeldiplomatie bestätigen die zentrale Rolle der USA im Zeitalter der Netzwerke. Heute, behauptet Clintons Chefstrategin, Anne-Marie Slaughter, bemesse sich Macht nach dem Ausmaß der Konnektivität. Die Dichte seiner weltweiten Verbindungen sei somit auch Amerikas größter Vorteil. In jedem Fall zeigen die Schlagzeilen der globalen Medien eine Welt, die Amerikas Meinung ernst nimmt. Wie am Zeugnistag in der Schule will jedes Land, will jede Partei wissen, wie sie abgeschnitten haben. Und alle versuchen sie weiter, Amerika auf ihre Seite zu ziehen. Jeder will seinen Karren vom amerikanischen Esel aus dem Dreck ziehen lassen.
Trotzdem irritiert die Wut über die Entblößung der vertraulichen Dialoge das globale Gespräch über Frieden und Freiheit und Wohlstand. Ein Phasenwechsel in der Betrachtung bedeutet aber noch nicht ein Umwerfen der etablierten Interessen der Nationen. Was sich die vielen Menschen der Welt wünschen, wie sie ihre Interessen bündeln, dies ändert sich nur sehr langsam. Und angesichts der gegebenen Interessenlagen werden die USA auch weiterhin Gesprächspartner finden - und andere Wege der Datensicherheit. Noch lange wird es nötig sein, die Amerikaner zu gewinnen, um die eigenen Interessen durchzusetzen.
Rosige Zukunft für die USA
In den nächsten fünfzig Jahren werden die USA einen relativ sicheren Weg beschreiten, der Wachstum und Wohlstand verspricht. Die Zukunft Europas, und des europäischen Umlands - gemeint sind Russland, Zentralasien, China, Indien und auch der den Europäern sehr Nahe Osten -, sie sieht weniger rosig aus. Natürlich stellen die revolutionäre Veränderungen des Informationszeitalters auch die Amerikaner vor Probleme. Sie, die so sehr auf das vernetzte Wissen setzen, müssen das Verhältnis zwischen Informationsfreiheit und Informationssicherheit immer wieder neu balancieren. Dies erfordert politisches Können.
Die Masse der veröffentlichten Dokumente führt in jeder Hauptstadt zu eigenen Schlüssen. Aus Berlin hören wir "schlechte Aktenführung", "inkompetente Bürokraten". In Teheran sagt Ahmadinedschad: Dass der König von Saudi-Arabien die iranische Schlange geköpft sehen will, sei sicher nur ein Mythos der CIA.
Nicht nur in den USA halten viele Julian Assange für eine Gefahr, er sei ein Verräter oder noch Schlimmeres. Also: Erledige den Boten! Natürlich sollte man die Motive und Methoden von Assange hinterfragen, wie bei jedem Aktivisten oder Journalisten. Aber das Phänomen Wikileaks geht über Assange hinaus. Der Hype um seine Person führt in die Irre.
Keinesfalls bedeutet Wikileaks das Ende des traditionellen Journalismus, sondern eher seine Renaissance. Die Verhältnisse zu deuten, die Zusammenhänge zu erklären, die Konturen der politischen (und wirtschaftlichen) Landschaft realitätsnah zu beschreiben, dies wird nicht weniger wichtig, sondern im Gegenteil: es wird unverzichtbar im Informationszeitalter, wo Datenmengen sich rasant vermehren. Zwischen 2008 und 2009 wuchs die globale Informationsmenge um 62 Prozent auf 800.000 Petabyte. 2010 bricht das Zeitalter der Zettabytes (1.000.000 Petabyte) an. Keine Atempause, Geschichte wird gemacht!
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um Bezahlkarte
Hundegulasch und Auslandsüberweisungen
Verkauf von E-Autos
Die Antriebswende braucht mehr Schwung
Nach Recherchen zum Klaasohm-Fest
Ab jetzt Party ohne Prügel
Hilfslieferungen für den Gazastreifen
Kriminelle Geschäfte mit dem Hunger
Wirbel um Schwangerschaftsabbruch
Abtreiben ist Menschenrecht
Ausstieg aus fossiler Stromerzeugung
Ins Stromnetz müssen 650 Milliarden Euro fließen