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Kommentar VerzehrstudieIhr Bauch gehört Ihnen!

Die Klassengesellschaft im 21. Jahrhundert bemisst sich offensichtllich nach dem Bauchumfang. Die Frage ist nur, wie weit der Staat sich volkspädagogisch einmischen soll.

Bild: taz

Ralph Bollmann ist Ressortleiter im Inlandsressort der taz.

Wenn es so etwas gibt wie eine neue Klassengesellschaft, dann bemisst sich die Schichtzugehörigkeit am Beginn des 21. Jahrhunderts am Bauchumfang. Die Ergebnisse der gestern vorgestellten "Verzehrstudie" scheinen in dieser Hinsicht alle Vorurteile zu bestätigen. Hatte der ehemalige Grünen-Politiker Oswald Metzger doch recht, als er sagte, viele Sozialhilfeempfänger sähen "ihren Lebenssinn darin, Kohlehydrate oder Alkohol in sich hineinzustopfen"?

Ja und nein. Dass sich das Verhältnis von Gewicht und Klasse in den letzten Jahrzehnten umgekehrt hat, lässt sich nicht bestreiten. Waren früher die Reichen dick und die Armen dünn, so ist es heute umgekehrt. Das ist in erster Linie der leichten Verfügbarkeit erschwinglicher Lebensmittel zu verdanken - und insofern ein zivilisatorischer Fortschritt. Exklusiv ist nur, was Mühe und Aufwand erfordert. Das ist längst nicht mehr das Beschaffen von Nahrung, sondern ihre kluge Dosierung und partielle Verweigerung.

Die große Frage ist, wie weit der Einfluss des Staates auf diesem Feld reichen sollte. Gewiss: Er muss die Verbraucher in den Stand setzen, dass sie von ihrem Recht auf alimentäre Selbstbestimmung angesichts einer übermächtigen Nahrungsmittelindustrie überhaupt Gebrauch machen können. Das bedeutet zum Beispiel, umfassende Informationen auf der Verpackung zu verlangen, notfalls auch Warnhinweise. Es bedeutet, auch an den Schulen Ernährungsfragen anzusprechen, es bedeutet auch bessere Bildung überhaupt. Mit ihren volkspädagogischen Erziehungsversuchen aber war die ehemalige Verbraucherministerin Renate Künast auf diesem Feld nicht weit von der Unterschichtsbeschimpfung ihres früheren Parteifreunds Metzger entfernt. Denn das Grundgesetz kennt kein Staatsziel Ernährungspolitik, sehr wohl aber das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit.

Dass bei ungesunder Ernährung Dritte nicht zu Schaden kommen, das ist der entscheidende Unterschied zum Tabakkonsum. Das sollten all jene bedenken, die jetzt mit abfälliger Rhetorik oder gar Verboten dem neuen Proletariat die ästhetischen Maßstäbe der akademischen Mittelschicht aufdrängen wollen.

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