Kommentar Verfolgung Linksautonomer: Beinahe lebenslänglich
Ein misslungener Anschlag, namentlich bekannte flüchtige Täter: Dass noch nach 21 Jahren deren Umfeld im Visier steht, ist politische Absicht.
Die Funktionalisierung von Personen, die wir der Justiz in die Hände gespielt haben, können wir durch unser Bedauern nicht rückgängig machen.“ – Dass dieser Satz aus der Auflösungserklärung ihrer „links-terroristischen Vereinigung“ (Bundesgerichtshof) noch mehr als zwei Jahrzehnte nachhallen würde, haben sich die Autonomen der Gruppe K.O.M.I.T.E.E. wahrscheinlich nicht träumen lassen.
21 Jahre ist es nun her, dass in einer Aprilnacht des Jahres 1995 mehrere Personen bei dem Versuch, das im Bau befindliche Abschiebegefängnis in Berlin-Grünau zu sprengen, überrascht wurden. Bei ihrer übereilten Flucht ließen sie eine Reihe von Spuren zurück, die schnell zu drei Männern aus der autonomen Szene führten.
Seitdem sind die Verdächtigen namentlich bekannt – und auf der Flucht. Einer von ihnen wurde 2014 in Venezuela aufgespürt und musste monatelang mit seiner Auslieferung an Deutschland rechnen, die anderen beiden bleiben verschwunden. Die Taten selbst sind längst verjährt, lediglich die Verabredung zu ihnen könnte die drei noch immer vor ein Gericht bringen.
Der Repressionsdruck liegt derweil nicht nur auf den mutmaßlichen Tätern, sondern auch auf ihrem damaligen sozialen Umfeld. Mittels ihrer erneuerten Drohung mit Beugehaft gegen eine nicht selber der Tat verdächtige Person, um diese zu einer Aussage zu bewegen, zeigt die Bundesanwaltschaft dabei eine bemerkenswerte Beharrlichkeit.
Drohgebärden gegen die Szene
Dass es sich bei der erzwungenen Vernehmung um ein Instrument zur Aufklärung handeln könne, wirkt mehr als zweifelhaft. Welche Erkenntnisse zu den Tätern oder dem Tatverlauf kann sich die Bundesanwaltschaft nach 21 Jahren von einer unbeteiligten Person denn erhoffen?
Vielmehr wird eine Drohkulisse aufgebaut gegen das frühere, jetzige und künftige soziale und politische Umfeld militanter Linker. „Wir vergessen nie!“ ist die Botschaft, die auf dem Rücken einer einzigen Person in die entsprechenden Kreise kommuniziert werden soll, und zwar einer Person, die selber weder verdächtig, noch beschuldigt ist. Insofern ist das Vorgehen der Bundesanwaltschaft zwar unverhältnismäßig gegen diese eine Person, aber keineswegs einfach nur lächerlich, sondern vor allem politisch.
„Die Funktionalisierung von Personen, die wir der Justiz in die Hände gespielt haben, können wir durch unser Bedauern nicht rückgängig machen.“ Das stimmt. Seit 21 Jahren. Die Justiz jedoch hat es in der Hand, die unwürdige „Funktionalisierung“ Unbeteiligter zu beenden, statt sie aus politischer Opportunität in einem Zustand beinahe lebenslänglicher Unsicherheit zu halten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Kompromiss oder Konfrontation?
Flexible Mehrheiten werden nötiger, das ist vielleicht gut
Der Check
Verschärft Migration den Mangel an Fachkräften?
FDP-Krise nach „Dday“-Papier
Ex-Justizminister Buschmann wird neuer FDP-Generalsekretär
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Selenskyj bringt Nato-Schutz für Teil der Ukraine ins Gespräch
Überraschende Wende in Syrien
Stunde null in Aleppo