Kommentar Tunesien: Das Ende der ewigen Heuchelei
Eine junge Frau wird von Polizisten vergewaltigt. Dass sie das Verbrechen öffentlich macht, ist ein großer Fortschritt für die tunesische Gesellschaft.
D ie Anklage einer 27 jährigen Tunesierin wegen „unsittlichem Verhalten“, nachdem sie von Polizisten brutal vergewaltigt wurde, bündelt die Ängste der tunesischen Zivilgesellschaft wie unter dem Brennglas. Und zeigt gleichzeitig die Schnittstellen des Kulturkampfes zwischen ewig konservativ Religiösen, die eine in der Gesellschaft tief verwurzelte Moral predigen und einer aufgeklärten Zivilgesellschaft.
Es ist zwar zu allererst die Angst der Frauen, die um ihre Rechte fürchten und wachsam dafür kämpfen, dass sie in der Verfassung, die gerade unter einer islamischen Mehrheitsregierung erarbeitet wird, als gleichwertig gelten. Es ist aber auch die Angst vor den alten Schrecken: institutionelle Willkür, polizeiliche Übergriffe, politische Einseitigkeit der Gerichte, korrupte Beamte.
„Sittliches Verhalten“ und alt hergebrachte Moralvorstellungen einer Männergesellschaft werden zur Vertuschung brutaler Gewalt und Verfügung über Frauen ins Feld geführt. Die ewige Heuchelei. Diese verlogene gesellschaftliche Moral wird auf dem Körper der Frau ausgetragen. Dieser ist mit dem Fluch „haram“, unrein, belegt. Der Vorwurf unsittliches Verhalten denunziert den weiblichen Körper als Aggressor.
ist Redakteurin für den Reiseteil der taz.
Deshalb muss er am besten hinter dem Schleier versteckt werden, damit er sich nicht von vornherein den Vorwurf der Unsittlichkeit und der Erregung öffentlichen Ärgernisses zuzieht. Genau dies wird in der Anklage gegen die junge tunesische Frau versucht. Die moderne Frau ist tendenziell „haram“.
Im Gerangel um die kulturelle Hegemonie zwischen islamischen und säkularen Kräften ist dieser Fall ein Präzedenzfall. Er empört Frauen aus allen Schichten, auch Verschleierte, die um ihre Freiheiten zittern müssen, wenn Islamisten die Scharia predigen. Und er zeigt wie sehr die Islamisten Moral als Geschütz auffahren, das sie über Sittlichkeits- und Blasphemie Regeln in der Verfassung verankern wollen.
Doch erstmals wurde das Schweigen aus Scham gebrochen. Die Scham, mit der jede vergewaltigte Frau alleine dasteht. Und das gesellschaftliche Echo, die Unterstützung ist groß. Das ist in einer traditionellen Gesellschaft ein Politikum und bei allem Schrecken ein Fortschritt: Die bösen Geister in den Institutionen und den Köpfen, die ihr Unwesen weiter treiben, müssen benannt werden.
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