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Kommentar Türkei und Deniz YücelDreiste Zuständigkeitslüge

Tobias Schulze
Kommentar von Tobias Schulze

Der türkische Ministerpräsident sieht Handlungsbedarf bei der Justiz im Fall Yücel. Falsch: Die Staatsanwaltschaft muss Anklage erheben.

Binali Yildirim und Angela Merkel im Bundeskanzleramt Foto: dpa

D er türkische Ministerpräsident will also nicht zuständig sein. Er hoffe, dass Deniz Yücel bald seinen Prozess bekomme, sagte Binali Yıldırım am Donnerstagabend während seines Besuchs im Kanzleramt. Das sei aber Sache der Justiz, und die arbeite im türkischen Rechtsstaat unabhängig. Eine Behauptung, die die türkische Regierung regelmäßig wiederholt – und der die Bundesregierung bisher nicht widersprochen hat. Dabei ist sie offensichtlicher Blödsinn.

Im Fall Yücel müssen nicht die Gerichte den nächsten Schritt machen, sondern die Staatsanwaltschaft. Ihre Aufgabe ist es, nach über einem Jahr Untersuchungshaft endlich Anklage zu erheben – oder die Vorwürfe fallen zu lassen und das Ermittlungsverfahren einzustellen. Unabhängig agieren die Staatsanwälte in dieser Frage entgegen Yıldırıms Behauptung wohl nicht. Schon institutionell sind die Strafverfolgungsbehörden in der Türkei eng mit der Regierung verwoben. Und das ist an und für sich auch noch keine Schande.

Selbst in Deutschland handeln Staatsanwälte nicht unabhängig. Anders als Richter sind ihre Behörden den Justizministerien von Bund und Ländern unterstellt. Die Regierungen dürfen den Staatsanwaltschaften Weisungen erteilen und machen von diesem Recht auch Gebrauch.

Unter Juristen ist die Sinnhaftigkeit dieser Struktur zwar umstritten, für das Weisungsrecht gibt es aber zumindest einen guten Grund: Dürfen die Justizminister auf die Staatsanwälte Einfluss nehmen, sind sie für deren Entscheidungen politisch verantwortlich. Sie haben also ein sehr persönliches Interesse daran, grobes Unrecht zu verhindern – wenn nicht aus Überzeugung, dann zumindest, um selbst keinen politischen Schaden zu erleiden.

Die türkische Regierung stiehlt sich aus ihrer Verantwortung, wenn sie jegliche Zuständigkeit für den Fall Yücel leugnet. Dass die Bundesregierung dabei mitspielt und ebenfalls von Entscheidungen einer unabhängigen Justiz spricht, ist wahrscheinlich Taktik: Sie will Erdoğan, Yıldırım und Co eine goldene Brücke bauen, um das Verfahren zu beenden, ohne das Gesicht zu verlieren.

Wenn die türkische Regierung aber partout nicht über diese Brücke gehen will, sollte die Bundesregierung über eine neue Taktik nachdenken: die Verantwortlichen klar benennen und den Rechtfertigungsdruck auf die türkische Regierung damit erhöhen.

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Tobias Schulze
Parlamentskorrespondent
Geboren 1988, arbeitet seit 2013 für die taz. Schreibt als Parlamentskorrespondent unter anderem über die Grünen, deutsche Außenpolitik und militärische Themen. Leitete zuvor das Inlandsressort.
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2 Kommentare

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  • Ich glaube, ich kenne die Ursache für die Verzögerungen:

    Voriges Jahr äußerte Erdoğan, solange ER an der Macht sei, käme Yücel keinesfalls frei!

     

    Nun rätseln die mit dem Fall befassten Juristen, wie ihnen der Spagat zwischen ihrer eigenen Kompetenz und Erdo’s rechtswidriger Kompetenzüberschreitung gelingt.

    Hierfür gibt es ein Prinzip, das weltweit Anwendung findet: „Was du heute kannst verschieben, das verschiebe nicht erst morgen!“ …

  • DIE HALBE WAHRHEIT...

    auch die türkischen gerichte sind zuständig, wenn die staatsanwaltschaft untätig bleibt und keine anklage fertigt: sie können einen haftprüfungstermin anordnen und - bei fehlenden haftgründen - den u-häftling freilassen. soweit das türkische recht dem entgegensteht, kommt die menschenrechtskonvention zur geltung. im deutschen strafprozess gibt es eine frist von 6 monaten, nach denen ein u-häftling unabhängig vom tatverdacht vom gericht aus der u-haft entlassen werden muss, wenn nicht die besondere schwierigkeit oder der besondere umfang der ermittlungen oder ein anderer wichtiger grund das urteil noch nicht zulassen und die fortdauer der haft rechtfertigen. auch die anwälte können mit einem antrag auf haftprüfung dem verfahren der u-haft mit dem ziel fortgang geben, den häftling freizulassen. nichtsdestotrotz ist die staatsanwaltschaft als handlanger der türkischen regierung in der pflicht, denn der freiheitsentzug ist der grösstmögliche eingriff des staates in die persönlichkeits- und freiheitsrechte des einzelnen.