Kommentar Terror in Europa: Der Bodensatz eines Kontinents

Die Morde von Toulouse zeigen: Der europäische Kapitalismus hat einen Untergrund gebildet, der auf niemanden mehr Rücksicht nehmen muss. Doch es gibt Auswege.

Mohamed Merah, der Mörder von Toulouse, ist tot. Und Europa hat seinen Ruf als Kontinent der Massaker mal wieder bestätigt.

Während die Deutschen monatelang über ein bedeutungsloses Funktionärsamt diskutieren und sich die Krise der Gemeinschaft einfach nicht mehr auf TV-Format bringen lässt, drängt der Untergrund nach oben. Von Oslo bis Toulouse, von Florenz bis zum Frankfurter Flughafen, von Zwickau bis London: Es sind Massaker, die ganz unterschiedlichen Lagern zuzurechnen sind – und doch sind es immer Taten von Menschen ohne Zukunft. Denn Europa wird weder zum nazistischen Rassestaat noch zum islamistischen Gottesstaat werden. Das wissen auch die Attentäter.

Die Wahnsinnstaten der letzten Jahre lassen sich als Eingeständnis einer Niederlage lesen: Der Kapitalismus mit seiner Repräsentationsform liberale Demokratie regiert unangefochten. Nur hat sich eben ein Bodensatz gebildet. Und wer weg vom Fenster ist, wie die drastische, auch in anderen Sprachen gern zitierte deutsche Formulierung heißt, der nimmt keine Rücksicht: nicht auf sich, nicht auf Kinder, auf niemanden.

Weitere Opfer werden also folgen, wenn nicht – ja, wenn nicht, was? „Liebe, Arbeit und Wissen sind die Quellen unseres Daseins. Sie sollen es auch regieren“, sagte einst Wilhelm Reich. Das mag kitschig klingen, ist aber als Agenda vielleicht gar nicht so unabstrakt. Wissen für alle, würdige Arbeit für alle, Erziehung, die selbstverständlich multikulturell ist, weil die Menschen nicht in sozial separierten Ghettos nebeneinander her leben: Das wird der Weg sein müssen.

Wenn der politische Wille da ist, kann sogar die deutsche Polizei ihren Rassismus sehr leicht überwinden. Sie muss in ihrer Zusammensetzung schlicht die deutsche Realbevölkerung widerspiegeln; und zwar nicht nur mit dem türkischstämmigen Alibicop auf der Straße, sondern durch alle Dienstgrade.

Und der Islam? Nun, der Islamismus gehört zu Europa, wie der Neonazismus zu Deutschland gehört. In den 1970ern hat es die Linke gesagt: Man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kamen Menschen. Und in den 1990ern hat sie gesagt: Die Nazis morden, der Staat und ein Großteil der Medien leugnen unverfroren. Jetzt ist es allerhöchste Zeit, mit einem guten alten US-Spruch sich den Realitäten zu stellen und Europa sozial neu zu begründen: This continent is your continent.

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Geboren 1968 in München, seit 2008 Redakteur der taz. Er arbeitet im Ressort taz2: Gesellschaft&Medien und schreibt insbesondere über Italien, Bayern, Antike, Organisierte Kriminalität und Schöne Literatur.

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