Kommentar Schwindende Mittleklasse: Rückkehr der Klassengesellschaft

Die Reichen werden reicher, die Armen ärmer und dir Kluft wird breiter: Die Erosion der Mittelschicht bedroht den Deutschen Grundkonsens.

Es ist beunruhigend, mit welcher Geschwindigkeit die deutsche Mittelschicht erodiert: Im Jahr 2000 konnten sich 49 Millionen Deutsche als "Otto Normalverbraucher" verstehen - 2006 waren es nur noch 44 Millionen. Stattdessen wachsen die Ränder. Die Zahl der Armen nimmt stark zu, aber auch weitere Neureiche sind zu verzeichnen. Die Kluft zwischen den Vermögenden und den Angestellten wächst. Einst wurde die Bundesrepublik als "nivellierte Mittelstandsgesellschaft" tituliert. Falls diese Bezeichnung je gestimmt hat, ist sie jetzt obsolet. Was sich zeigt, ist eine Klassengesellschaft.

Die Fronten zwischen Arm und Reich werden sogar noch krasser werden, denn neueste Studien ergeben, dass die Schichten auch im Konjunkturaufschwung auseinanderdriften. Selbst im Boom sinken die realen Nettolöhne. Das ist ein völlig neuartiges Phänomen in der deutschen Geschichte, das zugleich den Grundkonsens dieser Gesellschaft erschüttert. Bisher war die Idee, dass der Gürtel in Rezessionen enger zu schnallen ist und dafür alle am Boom beteiligt werden. Gleichzeitig war das Wort "Umverteilung" tabuisiert und galt als böse Erfindung von linken Schmuddelkindern. Doch nun stellt sich in diesem Aufschwung heraus, dass allein die Unternehmer gewinnen - und dass die ausgleichende Gerechtigkeit der Tarifpartnerschaft nicht mehr funktioniert.

Da sind neue Konzepte gefragt, zumal schon abzusehen ist, dass die Mittelschichten in der nächsten Rezession noch stärker schrumpfen. Denn die besten Zeiten liegen hinter uns. Obwohl es sich nicht so anfühlt, haben wir gerade eine Hochkonjunktur erlebt. Es muss also schlimmer kommen. Deutschland muss sich von der bequemen Hoffnung verabschieden, dass sich Chancengleichheit irgendwie von selbst einstellt. Der Staat kann gegensteuern - und zwar mit Steuern, die vor allem die Kapitalbesitzer treffen. Ein anderer Hebel bleibt nicht, meint man Armutsbekämpfung ernst.

Bisher scheut sich die etablierte Politik noch vor jedem Konzept, das links von der "Mitte" angesiedelt ist, weil sie diese "Mitte" nicht der Konkurrenz überlassen will. Aber von welcher "Mitte" ist da eigentlich die Rede? Die reale Mittelschicht steigt jedenfalls ab. ULRIKE HERRMANN

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Der Kapitalismus fasziniert Ulrike schon seit der Schulzeit, als sie kurz vor dem Abitur in Gemeinschaftskunde mit dem Streit zwischen Angebots- und Nachfragetheorie konfrontiert wurde. Der weitere Weg wirkt nur von außen zufällig: Zunächst machte Ulrike eine Banklehre, absolvierte dann die Henri-Nannen-Schule für Journalismus, um anschließend an der FU Berlin Geschichte und Philosophie zu studieren. Sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin der Körber-Stiftung in Hamburg und Pressesprecherin der Hamburger Gleichstellungssenatorin Krista Sager (Grüne). Seit 2000 ist sie bei der taz und schreibt nebenher Bücher. Ihr neuester Bestseller heißt: "Das Ende des Kapitalismus. Warum Wachstum und Klimaschutz nicht vereinbar sind - und wie wir in Zukunft leben werden". Von ihr stammen auch die Bestseller „Hurra, wir dürfen zahlen. Der Selbstbetrug der Mittelschicht“ (Piper 2012), „Der Sieg des Kapitals. Wie der Reichtum in die Welt kam: Die Geschichte von Wachstum, Geld und Krisen“ (Piper 2015), "Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung. Die Krise der heutigen Ökonomie - oder was wir von Smith, Marx und Keynes lernen können" (Piper 2018) sowie "Deutschland, ein Wirtschaftsmärchen. Warum es kein Wunder ist, dass wir reich geworden sind" (Piper 2022).

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