Kommentar Schlichtung "Stuttgart 21": Schlichtung, völlig falsch verstanden
Wie ein Flugzeug mit einem Flügel. Mit Geißlers Kombibahnhof hätte Deutschland ein bizarres Mahnmal für eine total falsch verstandene Schlichtungspraxis.
M an möge das Kind halbieren. So entschied laut Bibel der König Salomo, als gleich zwei Frauen behaupteten, die Mutter ein und desselben Babys zu sein. Jede sollte ihren Teil bekommen.
Heiner Geißler, Schlichter im Streit über Stuttgart 21, genießt eher den Ruf des politischen Schelms als den eines salomonischen Weisen. Trotzdem erinnert sein Vorschlag, mit dem er den Streit in Stuttgart befrieden will, abstrus an die alttestamentarische Kinderspaltidee: Man möge den Bahnhof halb vergraben und einen Mix aus Tief- und Kopfbahnhof bauen. Jede Seite soll ihren Teil bekommen.
Entscheidend ist nun die politische Wirkung eines solchen Kompromisses: Zunächst ist zu bemerken, dass Geißler den Vorschlag hinter den Kulissen erstellen ließ. Währenddessen zankten sich Streithähne über den Stresstest. Anstatt zu schlichten, wartete Geißler den Moment der Erschöpfung ab, um dann seinen Kompromiss hervorzuzaubern. Die berechtigte Kritik an dem vermeintlichen Stresstest ließ er unberücksichtigt. Auch über die Konsequenzen der Kritik - einen möglichen Bau- und Vergabestopp - redet jetzt kein Mensch mehr.
ist Redakteur im Wirtschafts- und Umweltressort der taz.
Mit diesem Verfahren spielt Geißler schlicht der Deutschen Bahn in die Hände. Die braucht auf den Vorschlag nicht einzugehen, weil sie nach derzeitigem Stand der Dinge bauen darf. Die Bahn kann also stressfrei zusehen, wie sich Projektgegner in der Diskussion um Geißlers Vorschlag zerreiben, während eine gespaltene Landesregierung DemonstrantInnen von der Polizei wegtragen lassen muss. Und zwar so lange, bis sämtliche Versuche, den Streit demokratisch zu schlichten, wegen des Baufortschritts hinfällig werden.
Ein Bahnhof ist eben keine Gesundheitsreform, bei der man in letzter Minute mit geschickt platzierten Vorschlägen eine Änderung oder eine Einigung erzielen kann. Sehe sie aus, wie sie wolle. Im Fall von Stuttgart: ein nur halb zerstörter Schlosspark, ein nur halb angefressener Hauptbahnhof mit noch einem Seitenflügel. Das macht so viel Sinn wie ein Flugzeug mit einem Flügel. Und dafür soll die Stadt für mindestens zehn Jahre eine riesige Baustelle in ihrem Zentrum hinnehmen?
Mit Geißlers Kombibahnhof hätte Deutschland ein bizarres Mahnmal für eine total falsch verstandene Schlichtungspraxis.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Wirtschaftsminister bei Klimakonferenz
Habeck, naiv in Baku
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit