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Kommentar Proteste in FrankreichKeine Protestfolklore

Rudolf Balmer
Kommentar von Rudolf Balmer

Aus dem Widerstand gegen die Rentenreform in Frankreich ist längst ein Kampf um echte Demokratie geworden. Daraus können die europäischen Nachbarn lernen.

F rankreich ist ja wieder mal ganz toll", schimpfte mit verhaltener Wut gestern ein Tourist in Marseille. Da Demonstranten die Zufahrt zum regionalen Flugplatz blockierten, musste er mehrere hundert Meter zu Fuß zurücklegen. Ein Land, in dem wegen Streiks alle Räder stillstehen, in dem die Leute für ihre Anliegen demonstrieren und sich auch mit Polizisten raufen, das passt ins europäische Klischee von den seit Gallierzeiten streitsüchtigen Bewohnern Frankreichs.

Was sich zurzeit hier abspielt, hat jedoch mit Folklore herzlich wenig zu tun und lädt mehr zum Nachdenken ein als zum amüsierten Schmunzeln. Auch vorschnelle Urteile im Stil "Wir können erst mit 67 in Rente, und die Franzosen wollen das Rentenalter 60 verteidigen?!"greifen zu kurz. Warum sollten sie ohne vorherige Verhandlung eine "Reform" akzeptieren, die nicht einmal im Programm des gewählten Präsidenten stand, sondern auf die Schnelle aus Angst um die Kreditwürdigkeit des französischen Staates entworfen wurde?

Bei diesem Konflikt liefern die Franzosen und Französinnen den Beweis, dass es möglich ist, das Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, wenn eine arrogante Staatsführung über ihre Köpfe hinweg eine Entscheidung trifft, die sie für zutiefst ungerecht halten. In wohl keinem vergleichbaren Land haben die Leute so sehr wie in Frankreich das Gefühl, die Demokratie sei zu einer routinemäßig funktionierenden Maschine geworden, die sich um die Beteiligung der Bürger einen Dreck schert, solange es nicht zur großen Panne kommt wie jetzt.

Mit ihrem Widerstand gegen eine von einer großen Mehrheit als Willkür empfundene Politik der sozialen Ungerechtigkeit liefern die Franzosen den Nachbarn ein Beispiel - auch wenn sie am Ende eine Niederlage einstecken sollten.

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Rudolf Balmer
Auslandskorrespondent Frankreich
Frankreich-Korrespondent der taz seit 2009, schreibt aus Paris über Politik, Wirtschaft, Umweltfragen und Gesellschaft. Gelegentlich auch für „Die Presse“ (Wien) und die „Neue Zürcher Zeitung“.
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5 Kommentare

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  • G
    gelse

    >>Natürlich handeln Banken und Großunternehmen nicht anders. Aber wie sagt man so schön? Two wrongs don't make a right.

  • A
    athe

    Hier geht es nicht um Reformen - Reformen wären ja ein Versuch, bstehende Einrichtungen so umzustrukturieren, dass sie danach, wenn möglich, besser, effizienter funktionieren. Die ganze Rentenfrage wurde aber in Frankreich vollkommen unabhänging von der Realität der Arbeitswelt gestellt. So wie das Gesetz heute aussieht, hat es kaum Chancen, auch nur fünf Jahre zu überleben. Um es etwas simpel auszudrücken, sollen künftig ehemalige Rentner aus der Arbeitslosenkasse bezahlt werden; und da die Jugendlichen auch immer mehr Mühe haben, auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, werden künftig die Renten schon rein mathematisch sinken. Das heißt ohne private Zusatzrente wird man künftig kaum noch von der Rente leben können. Deshalb handelt es sich hie auch nicht um eine "Reform", sondern um den systematischen Abbau des Staates.

    Ganz nebenbei ist Guillaume Sarkozy, der Bruder, mit seiner Gruppe Malakoff Médéric, und unter Mithilfe der staatlichen Caisse des Dépots, gerade dabei, einen privaten Rentenfond zu gründen...

  • C
    claudia

    >>Frankreich ist ja wieder mal ganz toll", schimpfte mit verhaltener Wut gestern ein Tourist in Marseille. Da Demonstranten die Zufahrt zum regionalen Flugplatz blockierten, musste er mehrere hundert Meter zu Fuß zurücklegen.>Wir können erst mit 67 in Rente, und die Franzosen wollen das Rentenalter 60 verteidigen?!">Warum sollten sie ohne vorherige Verhandlung eine "Reform" akzeptieren, die nicht einmal im Programm des gewählten Präsidenten stand,

  • J
    Jean-Jacques

    Ich kann dem Komentar von RUDOLF BALMER nur zustimmen.

    Die "Rentenreform" der UMP-Regierung wurde von den Kapitaleignern und den Finanzmärkten eingefordert und vom "Retter des Kapitalismus" N. Sarkozy ohne Beteiligung der Sozialpartner im Eiltempo durch Parlament und Senat "durchgepeitscht".

    Was jetzt in Frankreich passiert, ist Teil einer globalen Strategie des internationalen Finanzkapitalismus, der den Völkern die Politik diktiert.

    Viele haben es in Deutschland anscheinend noch nicht gemerkt, dass die "soziale Marktwirtschaft" der Vergangenheit angehört.

  • I
    iBot

    "Warum sollten sie ohne vorherige Verhandlung eine "Reform" akzeptieren, die nicht einmal im Programm des gewählten Präsidenten stand, sondern auf die Schnelle aus Angst um die Kreditwürdigkeit des französischen Staates entworfen wurde? "

     

    Ja richtig, warum sollten sie? Was schert einen auch die Kreditwürdigkeit des Staates, demografische Entwicklung oder der internationale Vergleich, wenn's darum geht, die eigenen Privilegien zu verteidigen?

    Natürlich handeln Banken und Großunternehmen nicht anders. Aber wie sagt man so schön? Two wrongs don't make a right.