Kommentar Pflegende Arbeitslose: Billigjobber sind kein Heilmittel
Langzeitarbeitslose eignen sich nicht als Pfleger für Demenzkranke. Der Vorschlag des Arbeitsamtes zeigt, welcher Stellenwert der Pflege eingeräumt wird.
10.000 Langzeitarbeitslose sollen das gestresste Fachpersonal in den Pflegeheimen entlasten, in denen schon heute eine einzige Pflegefachkraft für bis zu 50 Patienten zuständig ist. Ein Crashkurs soll genügen, um die Langzeitarbeitslosen für die Betreuung von Demenzkranken zu qualifizieren. Die Vorstellungen des Gesundheitsministeriums und der Bundesagentur für Arbeit offenbaren ein erschütterndes Maß an Unkenntnis von der Arbeit mit geistig verwirrten Menschen. Gleichzeitig zeigen sie, welch geringen Stellenwert sie ihrer Betreuung einräumen.
Tarik Ahmia ist Redakteur im Ressort Wirtschaft und Umwelt der taz.
Die tägliche Pflege von kranken Menschen ist ein äußerst anstrengender und anspruchsvoller Beruf - ebenso physisch wie psychisch. Da hilft es nichts, dass die Arbeitslosen auf dem Papier "nur" fürs Vorlesen und Spazierengehen zuständig sein sollen, denn in der Praxis ist der Übergang zwischen Pflege und Betreuung fließend. Die schwere körperliche Belastung, aber auch der tägliche Umgang mit dem Leid und Tod der Patienten führt dazu, dass qualifizierte PflegerInnen oft schon mit Anfang 40 verschlissen sind. Die angeblich 15.000 arbeitslosen Pflegekräfte in Deutschland stehen deshalb nur auf dem Papier: Denn die meisten sind aus dem erlernten Beruf ausgeschieden, weil sie den Belastungen nicht mehr gewachsen sind.
Demenzkranke sind nicht nur ein wenig vergesslich; sie leiden oft unter schweren Depressionen und aggressiven Ausbrüchen. Tatsächlich gibt es nicht genug Pflegekräfte, die für diese Arbeit wirklich qualifiziert sind. Das ist einer der Gründe, wieso das neue Pflegegesetz mehr Geld für die Betreuung Demenzkranker vorsieht. Nun ausgerechnet jene zum Helfen zu verdonnern, die nach Jahren der Arbeitslosigkeit oft selber hilfebedürftig sind, ist wahrlich zynisch. Was kommt danach? Werden Langzeitarbeitslose demnächst auch mal in den OP-Sälen das Skalpell schwingen dürfen?
Dabei könnte die Bundesagentur für Arbeit durchaus dazu beitragen, den Pflegenotstand zu bekämpfen - indem sie motivierte Arbeitslose langfristig zu voll qualifizierten Pflegefachkräften umschult. Das würde mehr bringen, als Demenzkranken überforderte Billigarbeiter zum Händchenhalten an die Seite zu stellen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Neunzig Prozent E-Autos bei Neuwagen
Taugt Norwegen als Vorbild?
Annalena Baerbock in Syrien
Unfreiwillige Misstöne
Religionsunterricht
Deutschlands heilige Kuh
Regierungskrise in Österreich
Auf der anderen Seite der Brandmauer
Nach Unfällen zu Silvester
Scholz hält Böllerverbot trotz Toten für „irgendwie komisch“
Rechtsextreme auf freiem Fuß
555 Neonazis mit offenen Haftbefehlen gesucht