Kommentar Ölpreis: Eine Krise des Kapitalismus
Der niedrige Benzinpreis freut die deutschen Autofahrer, gefährdet aber ganze Länder. Sinkt er weiterhin, könnte er die nächste Finanzkrise auslösen.
D er Ölpreis sinkt seit Monaten, und das Beunruhigende daran ist: Das alles hat was mit Ihrer Rente zu tun. Während sich Autofahrer freuen und das Heizen in der kalten Jahreszeit immer billiger wird, hat kaum jemand erfasst, welche gewaltige Sprengkraft hinter der Abhängigkeit der Welt vom Öl steckt.
Da sind zunächst Staaten wie Mexiko, Russland, Venezuela, Iran, Ecuador, Algerien, Nigeria und viele mehr, deren Staatshaushalt zu kollabieren droht, weil sie blind auf die ewig sprudelnden Erlöse aus dem Ölgeschäft setzen. Da sind aber auch Konzerne wie Exxon, Shell, Chevron, Total oder BP, deren Erlöse sinken. Mit denen muss niemand Mitleid haben, einzig: Es tun sich Parallelen zur Finanzkrise auf.
Die Erdölkonzerne dieser Welt haben eine Marktkapitalisierung von 4,6 Billionen US-Dollar. Pensionsfonds, Versicherungen, Staaten aus aller Welt haben ihr Geld – auch das Geld vieler deutscher Sparer und Anleger – über viele Ecken in diese Konzerne gesteckt, weil sie als unfehlbar gelten, als absolut sichere Anlage.
Sie sind damit, wie die Großbanken in der Finanzkrise: too big to fail, zu groß, um zu scheitern. Eine Krise der globalen Ölkonzerne wäre eine existenzielle Krise des gesamten Kapitalismus. Es gibt auf der ganzen Welt nicht eine einzige Finanzaufsicht, die das Problem auf dem Schirm hat. In der Logik der Finanzmärkte existiert es nicht. Das macht es so gefährlich.
Momentan geht es den Konzernen noch gut. Sie müssen wegen des niedrigen Ölpreises Quartalsgewinne nach unten korrigieren, mehr nicht. Steigt der Ölpreis, ist der Spuk vorbei. Vorerst. Denn das Problem liegt viel tiefer: Um einen katastrophalen Klimawandel zu verhindern, müsste ein Großteil der weltweiten Ölreserven – die britische Initiative Carbon Tracker spricht von 80 Prozent – unverkauft im Boden bleiben. Und damit würden Finanzanlagen in Billionenhöhe eigentlich wertlos.
Der ehemalige US-Vizepräsident Al Gore nennt das Problem die größte Finanzblase aller Zeiten. Die Konzerne aber investieren in die Erschließung neuer, noch schmutzigerer Ölvorkommen, als gebe es kein Klimaproblem – und sammeln dafür weiterhin Geld ein.
Nun fangen erste Pensionsfonds oder Universitäten an, sich Stück für Stück aus derartigen Geschäften zurückzuziehen. Geschieht dies nicht rechtzeitig, hat die Menschheit die Wahl: zwischen einer Weltfinanzkrise oder einem Klimakollaps.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Sourani über das Recht der Palästinenser
„Die deutsche Position ist so hässlich und schockierend“
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Autounfälle
Das Tötungsprivileg
Spardiktat des Berliner Senats
Wer hat uns verraten?
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Israel und Hisbollah
Waffenruhe tritt in Kraft