Kommentar Krankenversicherung: Eine bizarre Umverteilung

Die Spitzenverdiener sollen nun kassieren, obwohl sie von den Kassenbeiträgen am wenigsten betroffen sind: Ein groteskes Ungleichgewicht.

Existenzminimum - dieses Wort klingt so absolut. Es transportiert die Idee eines nicht verhandelbaren Mindestbedarfs, der für jeden Menschen gleich sein muss. Aber so funktioniert das nicht in Deutschland. Wieder einmal zeigt sich, dass das Existenzminimum für Reiche weit höher angesiedelt ist als für Normalbürger.

Konkret geht es diesmal darum, dass ab 2010 die Beiträge zur Pflege- und Krankenversicherung fast vollständig von der Einkommensteuer abgesetzt werden dürfen. Denn das Bundesverfassungsgericht sah sonst das Existenzminimum in Gefahr. Bis zu 100 Euro netto lassen sich dann im Monat sparen - allerdings nur von Spitzenverdienern, die den höchsten Grenzsteuersatz aufweisen. Bei den meisten Bürgern hingegen dürfte das Plus recht mager ausfallen. Ähnlich läuft es auch schon beim Kinderfreibetrag, der ebenfalls das Existenzminimum absichern soll: Auch dort ist der Nachwuchs der Reichen dem Staat besonders viel wert.

Leider handelt es sich beim neuen Steuergeschenk nicht um eine Bagatelle: Sie wird den Staat knapp neun Milliarden Euro jährlich kosten. Ursprünglich hatte Finanzminister Peer Steinbrück (SPD) die lobenswerte Idee, bei den Gutverdienern an anderer Stelle zu kassieren, damit sie von den absetzbaren Kassenbeiträgen nicht allzu sehr profitieren. So hätte es sich zum Beispiel angeboten, den Spitzensteuersatz anzuheben. Doch davon ist nun nicht mehr die Rede.

Bizarr ist nicht nur, dass ausgerechnet die Reichen besonders profitieren sollen. Noch irrer ist, dass die Spitzenverdiener nun kassieren sollen, obwohl sie von den Kassenbeiträgen am wenigsten betroffen sind. Denn es gibt ja eine Beitragsbemessungsgrenze für die gesetzlichen Kassen. Wer mehr als 3.600 Euro monatlich verdient, muss für sein Einkommen jenseits dieses Limits keine Beiträge mehr bezahlen. Die Last der Sozialversicherung sinkt also relativ, je besser man verdient.

Es ist grotesk: Ausgerechnet unter dem Stichwort "Existenzminimum" wird die Umverteilung von unten nach oben fortgesetzt.

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Der Kapitalismus fasziniert Ulrike schon seit der Schulzeit, als sie kurz vor dem Abitur in Gemeinschaftskunde mit dem Streit zwischen Angebots- und Nachfragetheorie konfrontiert wurde. Der weitere Weg wirkt nur von außen zufällig: Zunächst machte Ulrike eine Banklehre, absolvierte dann die Henri-Nannen-Schule für Journalismus, um anschließend an der FU Berlin Geschichte und Philosophie zu studieren. Sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin der Körber-Stiftung in Hamburg und Pressesprecherin der Hamburger Gleichstellungssenatorin Krista Sager (Grüne). Seit 2000 ist sie bei der taz und schreibt nebenher Bücher. Ihr neuester Bestseller heißt: "Das Ende des Kapitalismus. Warum Wachstum und Klimaschutz nicht vereinbar sind - und wie wir in Zukunft leben werden". Von ihr stammen auch die Bestseller „Hurra, wir dürfen zahlen. Der Selbstbetrug der Mittelschicht“ (Piper 2012), „Der Sieg des Kapitals. Wie der Reichtum in die Welt kam: Die Geschichte von Wachstum, Geld und Krisen“ (Piper 2015), "Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung. Die Krise der heutigen Ökonomie - oder was wir von Smith, Marx und Keynes lernen können" (Piper 2018) sowie "Deutschland, ein Wirtschaftsmärchen. Warum es kein Wunder ist, dass wir reich geworden sind" (Piper 2022).

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