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Kommentar IntersexuelleDie Anderen sind wir

Waltraud Schwab
Kommentar von Waltraud Schwab

Im Namen der Normalität werden intersexuellen Babys Hormone verabreicht und Operationen vorgenommen, die die Betroffenen als Folter bezeichnen. Das muss aufhören.

I st es ein Junge oder ist es ein Mädchen? Das ist die Frage, die alle meist zuerst stellen, wenn ein Kind zur Welt kommt. Bei etwa 350 Babys jährlich, die in Deutschland geboren werden, gibt es jedoch keine genaue Antwort. Denn sie kommen mit uneindeutigen Geschlechtsmerkmalen zur Welt. Die Kinder sind weder noch, sind sowohl als auch. Sie sind Zwitter, Hermaphroditen, Menschen, deren Körper Hormone auf eigene Weise verarbeiten.

Und wie reagieren die Eltern, wie reagiert die Gesellschaft, wie reagieren Ärzte und Verwaltungsbeamte? In den meisten Fällen: geschockt. Und zwar bis heute. Das uneindeutige Geschlecht – es wird als Anomalie wahrgenommen, die mithilfe von Medizinern normal gemacht werden soll.

Es werden Hormone verabreicht, obwohl Hormone für Kinder nicht zugelassen sind. Es werden Operationen an Kindern vorgenommen, die gut und gerne Kastration genannt werden können. Es werden Neovaginas angelegt – eine Prozedur, die Betroffene als Folter bezeichnen, für die aber auch Worte wie Missbrauch oder Vergewaltigung nicht zu hoch gegriffen sind. Alles im Namen einer Normalität, die es nicht gibt. Das muss aufhören.

DIE AUTORIN

WALTRAUD SCHWAB ist Redakteurin im Ressort sonntaz.

Ohrlöcherstechen bei Kindern wird juristisch hoch gehängt, Verstümmelung an intersexuellen Kindern jedoch nicht.

Das Recht auf körperliche Unversehrtheit, auf körperliche Integrität, auf sexuelle Selbstbestimmung ist bei Intersexuellen wie ausgehebelt. Weil es zu viel verlangt scheint, von der Mehrheit zu erwarten, dass sie in mehr als zwei Geschlechtern denkt. Zwischen weiblich und männlich liegt eine Bandbreite an Möglichkeiten – die Natur sieht sie vor, die Gesellschaft aber übersieht sie. Es ist an der Zeit, dass sich was ändert. Und zwar nicht bei den Intersexuellen, sondern bei den Anderen.

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Waltraud Schwab
taz-Redakteurin
Seit 2002 bei der taz, erst im Lokalteil, jetzt in der Wochentaz. 2005 mit dem Theodor-Wolff-Preis ausgezeichnet für die Reportage „Schön ist das nicht“, 2011 wurde die Reportage „Die Extraklasse“  mehrfach prämiert. 2021 erschien ihr Roman "Brombeerkind" im Ulrike Helmer Verlag. Es ist ein Hoffnungsroman. Mehr unter: www.waltraud-schwab.de . Auch auf Twitter. Und auf Instagram unter: wa_wab.un_art
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4 Kommentare

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  • M
    mconsee

    @Hauke Laging: Natürlich sieht die Natur das vor (sofern die Natur überhaupt irgendetwas vorsieht), sonst gäbe es diese Ausprägungen nicht. Trisomie 21 beispielsweise ist kein "Defekt", sondern lediglich eine andere chromosomale Konstellation, die vollkommen lebensfähige Früchte trägt. Bei Intersexualität und siamesischen Zwillingen ist das nicht recht viel anders. Wo ist also das Problem? Leider ist der Schritt davon, etwas als "Defekt" zu bezeichnen zur Forderung nach der "Endlösung" (Aktion T4 früher bzw. Senkung der "Gesundheitskosten" heute) nicht besonders groß.

  • M
    Marc

    Sehr guter Kommentar, und deutlich. Das muss auch sein, denn es steht zu befürchten, dass im "Anti-Gender"-Trend, der durchs Internet und die Medien weht, der Neobiologismen und "Mars-Venus"-Simplifizierungen mit sich führt, das Schicksal der Zwitter verdrängt wird. Wenn das Geschlecht wieder nach einer Seite vereindeutigt werden muss, weil unsere Kultur ein Jenseits der Zweiheit nicht erträgt, wird der Terror im Namen der Normalität weitergehen.

     

    Was uns Intersexuelle und Transgender mit auf den Weg geben: Auch in unserer "Normalwelt" der Männer und Frauen herrscht in vielem eher das Kontinuum, der Übergang zwischen den Geschlechtern als die Eindeutigkeit. Daran könnte unsere Kultur lernen - wenn sie denn wollte...

  • HL
    Hauke Laging

    "die Natur sieht sie vor"

     

    Alberner ging es wohl nicht mehr. "Sieht" die Natur auch Siamesische Zwillinge und Trisomie 21 "vor"? Sollen wir aufhören, darin einen Defekt zu sehen und statt dessen die "natürliche Vielfalt" bewundern?

  • M
    Mitschwanz

    Da sind die Piraten progressiv: Auf ihren Parteitagen sind die Klos nicht als "H" oder "D", sondern als "ohne" bzw. "mit Pissoir" bezeichnet. Als ich dann voll Neugier auf das "ohne-Klo" ging, schauten mich die (viel zu wenigen) Damen dann doch pikiert an.