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Kommentar HochschulenVon wegen Bildungsrepublik!

Anna Lehmann
Kommentar von Anna Lehmann

Die seit Jahrzehnten praktizierte Mangelverwaltung der Hochschulen macht wütend. Sie straft alle schönen Versprechungen von der Bildungsrepublik Lügen.

D ie Hochschulen steuern zu Beginn des Wintersemesters auf ein Fiasko zu. Niemand weiß, wie viele Studienanfängerinnen und -anfänger sich in die Hörsäle quetschen werden. Doch anstatt kurzfristig Abhilfe zu schaffen, wartet die Bundesregierung erst mal ab. Mal sehen, wie lange sich die Studierenden hinhalten lassen. Ein neuer Uni-Streik liegt in der Luft.

Gründe gibt es genug: Erst kürzen fast alle KultusministerInnen die Abiturzeit und jagen die SchülerInnen in ein Hamsterrennen um Punkte und Zensuren. Und wenn die AbsolventInnen der Doppeljahrgänge hechelnd vor den Türen der Hochschulen ankommen, erfahren sie, dass Plätze leider knapp sind.

Auch das versprochene zentrale Zulassungsverfahren funktioniert leider nicht. Technische Gründe eben. Dass Bund und Länder die immerhin funktionierende Zentralstelle für die Vergabe von Studienplätzen zuvor hastig entrümpelten, verschweigen sie dabei.

taz
Anna Lehmann

ist Bildungsredakteurin im Inlandsressort der taz.

Wütend macht aber nicht nur das schon obligatorische Gedränge zum Semesterbeginn; es ist die seit den 1970er Jahren praktizierte Mangelverwaltung der Hochschulen, die alle schönen, neuen Versprechungen von der Bildungsrepublik Lügen straft. Das System gleicht einem Anzug, den man zum Abitur gekauft hat und der nun, vierzig Jahre später und zwanzig Kilo schwerer, immer noch in Gebrauch ist.

An den Unis wird es eng, sie platzen aus allen Nähten. Und die Hürden werden noch höher: Wer an der FU Berlin Grundschulpädagogik studieren will, muss ein Abitur von 1,5 haben oder bis zu acht Jahre warten. Das Grundrecht auf freie Wahl von Beruf und Ausbildungsplatz ist für viele junge Leute praktisch wertlos.

Bund und Länder aber verspielen die Chance, die wachsende Studierneigung nicht nur zu bejubeln, sondern auch zu ermöglichen. Dabei betonte die Bundesregierung erst letzte Woche wieder bei der Vorstellung des OECD-Berichts "Bildung auf einen Blick", wie sehr sich Investitionen in Bildung auszahlten. Hehre Worte. Es ist Zeit, es ganz pragmatisch krachen zu lassen: In der Krise handelt die Regierung oft flink und effektiv.

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Anna Lehmann
Leiterin Parlamentsbüro
Schwerpunkte SPD und Kanzleramt sowie Innenpolitik und Bildung. Leitete bis Februar 2022 gemeinschaftlich das Inlandsressort der taz und kümmerte sich um die Linkspartei. "Zur Elite bitte hier entlang: Kaderschmieden und Eliteschulen von heute" erschien 2016.
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4 Kommentare

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  • SQ
    Scream Queen

    Von wegen Biltunksreplik: Wer nicht höhren will, mus fülen.

  • H
    hamster

    Hörsaal, nicht "Höhrsaal"!

  • DW
    David W.

    In den meisten Medien ist der ganz normale Wahnsinn an unseren Hochschulen schon keine Meldung mehr wert. Vielen Dank an Fr. Lehmann und an die taz-Redaktion allgemein, dass ihr dennoch immer wieder die Dauermisere im deutschen Hochschulsystem anprangert. Ich arbeite im Senat und AStA meiner Hochschule (NRW) und erlebe immer wieder aufs Neue, wie sehr die schönen Sonntagsreden und Versprechungen der Verantwortlichen und die bittere Realität auseinanderklaffen.

    Etliche meiner KommilitonInnen haben sich in der letzten Protestbewegung, dem Bildungsstreik, engagiert und für Veränderungen im Bildungssystem demonstriert, Hörsäle besetzt, Diskussionen geführt, Flugblätter verteilt und versucht gegen die apathische Grundstimmung anzugehen. Aussagen wie "Meint ihr da ändert sich was, das bringt was?" waren leider die häufigste Reaktion, die ich erhielt.

    Die schönen Versprechungen und Reaktionen der Verantwortlichen blieben aber folgenlos, so dass viele enttäuscht sich zurückzogen. Das verkürzte Studium erschwert ehrenamtliches Engagement zusätzlich, ob nun Teilnahme an Protesten, Mitarbeit in der Verfassten Studierendenschaft oder in akademischen Gremien.

     

    P.S. Vielleicht wäre es für die taz möglich, eine Sonderausgabe oder Extraseiten zum Thema Hochschulsystem zu bringen, um zusammenfassend über die gravierenden Veränderungen der Hochschullandschaft zu informieren. Den meisten Mitmenschen bedeuten Begriffe wie KMK, fzs, AStA, KASAP, BA/MA, DAAD, CHE, StuRa, LAT/LAK, VS/PM, Exzellenzinitiative, Bafög oder Deutschlandstipendium nur wenig oder wie sie im Zusammenhang stehen, noch was alles genau unter dem Bologna-Prozeß fällt und was eine rein deutsche Interpretation ist.

  • RB
    Repu blik

    Wie hier schon andere schrieben: Die Vergleiche mit dem Ausland sind falsch, weil man dort "Universitäten" auf Berufs-Akademie- und Berufs-Schul-Stufe hat, und das Studium nennt was hier eine Facharbeiter-Ausbildung+Fortbildungen ausmacht.

     

    Wenn man Studenten ausbildet, müssten die teuren Unis sich verpflichten, ein angemessenes steuerzahlendes Gehalt für die mehreren Studien-Jahre ohne Sozialbeiträge zu erbringen.

    Wenn die taz per Umfrage open-data Absolventen & Arbeitslosigkeit & Überqualifikation & Gehälter korrellieren würde, wären ein paar Milliarden frei, weil deren Studiengänge erst mal 2-5 Jahre nicht mehr ausbilden dürften.

    Leider jammert man mehr und verleitet viele Leute zu einem Studium ohne akzeptablen Lebenslohn.

    Die Übervölkerung z.b. in Medienstudiengängen will wohl keiner sehen. Früher gabs auch "Container"studiengänge weil man später heiratete. 1/3 (?) der Absolventinnen hat niemals in ihrem steuerfinanzierten Studien-Beruf gearbeitet sondern anderen die Parkplätze, Bücher und Sitzplätze und Seminarplätze weggenommen. Wer solche Diplom-Hausfrauen teuerst ausbildet, hat wohl noch viel viel viel zu viel Geld.

     

    Das System ist eine Lüge. Die Recherche nach Hunger-Studiengängen ohne echte Jobaussicht wäre trivial. Aber Piraten interessiert das natürlich nicht mal eben eine entsprechende Umfrage-Website aufzumachen.