Kommentar Hartz IV-Neuberechnung: Politisches Delirium
Das für Hartz IV festgelegte "Existenzminimum" ist niemals eine "objektiv" ermittelte, sondern immer eine politische Zahl gewesen.
M it der Spekulation über die neuen Hartz-IV-Regelsätze lässt sich an Biertischen gut Stimmung machen – es sei denn, unter den Gästen sind Langzeitarbeitslose, die dadurch wohl schlagartig ernüchtert werden. Hat ein Hartz-IV-Empfänger einen Anspruch darauf, dass ihm die Allgemeinheit alkoholische Getränke und Tabak bezahlt?
Bisher sind rechnerisch 19 Euro im Monat für diese Posten im sogenannten Existenzminimum enthalten. Im politischen Streit über die Regelsätze spekulieren nun Haushaltspolitiker darüber, diese Ausgaben zu streichen. Das ist ein allzu durchsichtiger Versuch, Sparpolitik mit angeblicher Disziplinierung zu verbrämen.
Der Hintergrund ist klar: Womöglich kommen die Statistiker in ihren noch geheim gehaltenen Berechnungen zu dem Schluss, dass der Regelsatz von monatlich 359 Euro pro Erwachsenen deutlich steigen müsste, weil auch die Ausgaben der Referenzgruppe der Geringverdiener erheblich gewachsen sind. Doch damit ergibt sich für die Sparpolitiker in der Regierung ein Problem. Eine Erhöhung der Hartz-IV-Beträge schlägt nämlich mit Milliarden an Mehrkosten zu Buche.
Barbara Dribbusch ist Redakteurin für Soziales im taz-Inlandsressort.
Da könnte man doch den neuen Regelsatz wieder künstlich klein rechnen, indem man etwas von "Genussmitteln" erzählt, die nicht zum "unantastbaren" Bedarf gehören, denkt mancher Haushaltspolitiker laut vor sich hin. Zumal doch Hartz-IV-Empfänger angeblich ohnehin zu viel saufen, das falsche Fernsehprogramm gucken und ihre Kinder von jeder Bildung fernhalten.
Die Idee entspringt einem politischen Delirium und ist aus der Not einer Sozialstaatslüge geboren: Genau wie die früheren Sozialhilfesätze ist auch das für Hartz IV festgelegte "Existenzminimum" niemals eine "objektiv" ermittelte, sondern immer eine politische Zahl gewesen, festgesetzt mit Rücksicht auf die Haushaltslage und auf den sogenannten Lohnabstand zu Geringverdienern, der schon aus disziplinarischen Gründen nicht aufgegeben werden soll. Eine würdige Existenz hat aber mit Disziplinierung erst mal nichts zu tun. Das wissen nicht nur Besucher des Oktoberfests.
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