Kommentar Grünen-Boom: Die Schwammigen
Die Grünen profitieren von einem diffusen Unbehagen an der Parteiendemokratie und saugen wie ein Schwamm links und rechts Unzufriedene auf.
D ie Grünen liegen, seriösen Umfragen zufolge, im Bund bei 18 Prozent. Bei den Wahlen, etwa in NRW, haben sie gut abgeschnitten. Sie sind populär wie nie. Warum eigentlich?
Bestimmt nicht wegen ihrer glanzvollen Regierungsarbeit in Hamburg und im Saarland. In der Hansestadt wurde die erste schwarz-grüne Koalition als historisches Ereignis gefeiert. Davon ist seit dem verlorenen Volksentscheid in der Schulpolitik nichts mehr übrig. Im Saarland lastet auf den Grünen der Verdacht, dass Geldspenden eines FDP-Unternehmers die Bildung der Jamaika-Koalition enorm beflügelten.
Das müsste eine Partei mit einem so streng moralischen Selbstbild ins Mark treffen. Tut es aber nicht. Denn die Grünen sind anscheinend unverwundbar: Sie sind bürgerlich, aber auch ein bisschen alternativ, staatstragend, aber demotauglich, ein bisschen neoliberal, aber eigentlich auch für einen etatistischen Green New Deal. Sie sind in der Mitte angekommen, aber auch ein bisschen anders. Meinungsführer sind sie noch immer nur bei der Umwelt, sonst nirgends. Selten war eine Partei so grundlos erfolgreich.
Stefan Reinecke ist Redakteur im Berliner Parlamentsbüro der taz.
Natürlich ist manches an dem Hoch flüchtig und situativ. Die Grünen profitieren von einem diffusen Unbehagen an der Parteiendemokratie und saugen wie ein Schwamm links und rechts Unzufriedene auf. Außerdem ist der Rhythmus der Stimmungswechsel schneller geworden. Gestern war die FDP ganz weit oben, heute sind es die Grünen, morgen andere. Eine abstruse Verwechslung ist insofern das Wort von der neuen Volkspartei. Die Grünen sind nichts weniger als das. Sie sind eine relativ kleine Milieupartei aus Beamten, Lehrern, Selbständigen, ohne Arbeiter und Arbeitslose.
Was die Partei von ihrem gefühlten Höhenflug am Ende haben wird, ist völlig offen. Der Protest gegen den schwarz-gelben Atomdeal hat ihre Street Credibility erneuert. Ihre Koalitionsmöglichkeiten aber sind mit Merkels Pro-Atom-Kurs rasant zusammengeschmolzen. Denn die Grünen können alles Mögliche sein, aber keine AKW-Partei. Damit ist der Traum von Schwarz-Grün fürs Erste geplatzt. Ihr Lieblingsort, in der Mitte zwischen SPD und Union, ist damit abgebrannt.
Gegen Schwarz-Gelb zu sein ist derzeit nicht schwierig. Die Frage lautet, ob die Grünen den Mut haben, mit SPD und Linkspartei eine Alternative zu schmieden. Dafür müssten sie sich entscheiden. Können sie das?
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Kompromiss oder Konfrontation?
Flexible Mehrheiten werden nötiger, das ist vielleicht gut
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“
Der Check
Verschärft Migration den Mangel an Fachkräften?
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“