piwik no script img

Kommentar Grüne ModernisierungAufbruch der Mutbürger

Reiner Metzger
Kommentar von Reiner Metzger

Ausgerechnet der früheren Bürgerschreckpartei wird zugetraut, das bürgerliche System zu modernisieren. Auf Union und FDP setzt man dagegen keine Hoffnungen mehr. Zu recht.

D ass in Baden-Württemberg bald der erste grüne Ministerpräsident regieren wird, zeigt das Maß der Erschütterung des deutschen Parteiensystems. Nicht, weil die Grünen das System in Frage stellen würden, Gott bewahre - doch nicht mit einem Winfried Kretschmann als Chef. Die Erschütterung besteht vielmehr darin, dass die Grünen als einzige Partei übrig geblieben sind, der man noch zutraut, die gesellschaftliche Modernisierung voran zu treiben.

Die Grünen sprechen heute ein breites Spektrum an Wählern an, quer durch alle Alters- und viele Milieugrenzen hinweg. All diese Menschen eint der Wunsch, das deutsche Wohlstandsmodell zu erhalten, indem es reformiert wird. Für den Einzelnen soll sich dabei nicht allzu viel ändern - mit diesem Modell sind die Menschen im Südwesten ja seit Jahrzehnten hervorragend gefahren. Mit anderen Worten: ausgerechnet der früheren Bürgerschreckpartei wird zugetraut, das bürgerliche System zu modernisieren.

Auf Union und FDP setzt man dagegen keine Hoffnungen mehr. Zu recht. Nicht nur wegen deren Festhalten an der Atomkraft oder dem Wegbetonieren von Steuermilliarden wie bei Stuttgart 21. Auch, weil die Mischung aus Gerechtigkeit, Geld und Zukunft nicht mehr stimmt: Da gibt es eine Bankenkrise - und was passiert? Die Steuerzahler zahlen die Schuldigen aus. Da gehen die Kommunen pleite - und Vermögende sollen trotzdem weniger Steuern zahlen. Da sollen Frauen Prämien erhalten, wenn sie ihre Kinder nicht in die teuer geschaffenen Kita-Plätze geben - und all das verkaufen Union und FDP allen Ernstes als zukunftsweisende Politik.

Bild: taz

REINER METZGER ist stellv. Chefredakteur der taz.

Die so genannten "Wutbürger" sind zur neuen, wahlentscheidenden Schicht geworden. Indem sie sehr konkrete Forderungen erheben, zwingen sie die Politik zu klaren Aussagen. Und durch ihr Engagement schaffen sie ein neues Mitmachklima im Lande. Für diese neuen Mitbestimmungs-Bürger sind nur die Grünen glaubhaft, schließlich sind diese selbst aus Bürger-Initiativen entstanden.

Nun haben die Grünen erstmals die Chance, in einem großen Bundesland Politik zu gestalten. Die Risiken sind klar: Das Beispiel der gescheiterten SPD-Kandidatin Andrea Ypsilanti in Hessen hat gezeigt, welcher Widerstand vom Wirtschaftsflügel der SPD zu erwarten ist, will man die Energiewirtschaft in ihrer jetzigen Form ernsthaft angehen. Die konservative Mehrheit der Bevölkerung in Baden-Württemberg muss von Schul- und Gemeindereformen ebenso überzeugt werden wie von Windrädern auf ihren Hausbergen. Und spannend bleibt, wie lange der finanzkräftige schwäbische Mittelstand das Ganze unterstützt - oder zumindest nicht bekämpft.

Der Wutbürger hat seinen Willen gehabt. Nun ist der Mutbürger gefragt. Wenn der grüne Ministerpräsident seine Ziele umsetzen will, müssen ihm die aktiven Bürger sowohl auf die Finger sehen als auch gegen die Blockierer unterstützen. Da bleibt noch viel Raum für positiven Erschütterungen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Reiner Metzger
Leiter Wochenendtaz
Reiner Metzger, geboren 1964, leitet taz am Wochenende zusammen mit Felix Zimmermann. In den Bereichen Politik, Gesellschaft und Sachkunde werden die Themen der vergangenen Woche analysiert und die Themen der kommenden Woche für die Leser idealerweise so vorbereitet, dass sie schon mal wissen, was an Wichtigem auf sie zukommt. Oder einfach Liebens-, Hassens- und Bedenkenswertes gedruckt. Von 2004 bis 2014 war er in der taz-Chefredaktion.
Mehr zum Thema

8 Kommentare

 / 
  • FB
    Franz Beer

    Es ist schon bald eine Alte Weisheit .Wer zulange regiert und die Macht in den Händen hält,der verliert automatisch den Bezug zur Realität.Und dieser Verlust zeigt sich in der Koalition in einer Art ,,Endzeitpanik,,.Wer soll dieses noch glauben,Atom-ja-nein.Unglaubwürdig absolut.Etwas besseres als Alternativ-Grün kann Deutschland nicht passieren.Die CDU CSU ,,FDP,, ist von einer Volkspartei zu einer Lobby-Stammtisch-parolen Partei geworden,man kann es auch nicht jedem recht machen Frau Merkel.Die Grünen sind von Ihrer Gründung an gegen Atom gewesen, und sind bei IHREN Zielen geblieben und haben sich auch in Kriesen nicht zum Spielball anderer Parteien machen lassen.Bewundenswert.Bleibt zu hoffen das sie auch gute Leute haben die den Mut haben gegen den Strom zu schwimmen.

  • GH
    Gernot Haidorfer

    Modernisierung tut not

    Während ich gerade diese Zeilen mit dem Griffel auf meine Schreibtafel aus Ton ritze, sitzen hier in der Höhle andere baden-württembergische Primaten herum und geben zustimmende Nuschel- und Zischlaute von sich. Ich solle mich bei der „taz“ bedanken, dass sie mit ihrer Forderung, „die konservative Mehrheit der Bevölkerung in Baden-Württemberg (müsse) von Schul- und Gemeindereformen ebenso überzeugt werden wie von Windrädern auf ihren Hausbergen“ und der Darlegung eines lähmenden gesellschaftlichen Stillstandes auf die Vor- und Unmodernität unseres Bundeslandes hingewiesen hat. Unsere dunkle Zurückgebliebenheit, in die endlich das Licht der grünen Aufklärung mit ihren Reformen strahlen wird, hätte sogar noch anschaulicher gemacht werden können. So zeigen die Auszeichnungen für unsere mit Studiengebühren finanzierten Universitäten wie Freiburg oder Karlsruhe nichts anderes an als dass es hier eine geistig-soziale Reproduktion der Elite gibt wie zu Zeiten des Kaiserreichs. Die Selektion zehnjähriger Kinder, die bereits nach der 4. Klasse nicht mehr gemeinsam lernen dürfen und denen, wegen der mangelnden Durchlässigkeit des Schulsystems und der hohen Jugendarbeitslosenzahlen in Baden-Württemberg, jeder Zugang zu qualifizierteren Schul- und Berufsabschlüssen verwehrt ist, spricht für die Notwendigkeit von Bildungsreformen. Doch selbst bei den grünen Modernisierern scheint es – typisch für das Ländle - rückwärtsgewandte Elemente zu geben. Herr Kretschmann, mit fünfköpfiger Familie, mit Werteorientierung und ohne gebrochene Biographie, erscheint wie ein Überbleibsel aus der Biedermeierzeit. Ob die dringend nötigen Reformen mit diesem Personal gelingen?

    Wenn die „taz“ es nicht so deutlich schreibt, so schreibe ich es: Wir können nichts. Außer wählen.

  • SS
    Steffen Skalé

    Wenn ich mir die ersten Kommentare hier so durchlese, dann frage ich mich schon, seit wann die Meinung eines (stellvertretenden) Chefredakteurs, jene der taz sei. Das ist doch schon -qua status- einfach nur unsinnig, denn es gibt keine Meinung der taz im Sinne eines GANZEN; es gibt immer nur Meinungen der einzelnen Schreiber eines Beitrags. Wäre ja noch schöner, wenn man es sich so einfach machen könnte.

     

    Aber mal zun seiner Analyse:

     

    "Die Erschütterung besteht vielmehr darin, dass die Grünen als einzige Partei übrig geblieben sind, der man noch zutraut, die gesellschaftliche Modernisierung voran zu treiben."

     

    --> Woran lässt sich denn ablesen, dass sie "übrig geblieben" sind? Das klingt ja so, als ob alle anderen nicht mehr aktiv wären? Und WER traut ihnen das zu? Das ist eine undefinierte Gruppe! Da müssten Sie schon mal in medias res gehen, wen Sie hier meinen!? (sich selbst [wäre auch OK], oder?)

     

    "Die Grünen sprechen heute ein breites Spektrum an Wählern an, quer durch alle Alters- und viele Milieugrenzen hinweg."

     

    --> Welches Spektrum? Wonach wird klassifiziert? Wenn man diese Aussage schon bringt, dann sollte man skizzieren, worauf man hinaus möchte! (soziale Milieus, geistige Milieus usw. [die sind nicht zwingend kongruent]) Zwar erwecken Sie danach den Eindruck, es ginge ums monetäre Milieu, aber das kann ja nicht alles sein, was die GRÜNEN als "ansprechen" spiegeln, oder?

     

    "Auf Union und FDP setzt man dagegen keine Hoffnungen mehr. Zu recht."

     

    --> WER setzt keine Hoffnungen mehr in ...? Das erscheint mir doch etwas arg pauschal. Ihre Wertung in allen Ehren, aber kann es soweit gehen, dass Sie der CDU/FDP im Prinzip -pauschal?- aberkennen, dass sie noch etwas für die Zukunft (darauf zielen ja Hoffnungen im Allgemeinen ab) zu bieten haben? Ich bin bestimmt kein Freund dieser Parteien, aber das ist doch einfach indifferent. Hätten Sie geschrieben, dass CDU/FDP aus dem und dem konkreten Grund keinen Anlass mehr zu einer Hoffnung geben, dann wäre dies schon noch etwas anderes gewesen. Aber das bleiben Sie leider schuldig.

     

    "Die so genannten "Wutbürger" sind zur neuen, wahlentscheidenden Schicht geworden. "

     

    --> Hier wird der Eindruck vermittelt/erweckt, dass eine Wahl nur noch gewonnen werden kann, wenn sich Wutbürger als Zünglein an der Waage gerieren. Das ist doch nun wirklich schlicht absurd! Wir haben nicht mal eine halbwegs brauchbare "Definition", was überhaupt ein "Wutbürger" ist, aber führen in einer conclusio an, dass er entscheidenden Einfluss hat. Sind (soziologisch) denn plötzlich alle "Wutbürger" eine homogene Gruppe, die die GLEICHEN Ziele verfolgen? Kann man das wirklich so annehmen?

     

    usw, usw...

     

    Also etwas unscharf ist der Artikel dann doch schon... Nun ja, ein Debattenbeitrag eben ;-)

  • D
    Diesseitige_Parallelwelt

    @satire?!?

     

    Aus welchem Paralleluniversum kommen Sie denn?

    CDU/FDP haben schliesslich Springer-Burda-Focus

    als Presseorgane.

     

    Aber lassen Sie mich Ihnen so antworten:

     

    *Achtung satire *

    Bitte reihen Sie sich nicht in die Riege unseres Regierungskompetenzteams ein wo einige nicht an Realitätsverlust leiden, sondern ihn geniessen.

    * Ende Satire*

  • NG
    Nils Gärber

    Es ist schon erstaunlich, wie weit der Herr stellvertretende Chefredakteur von der Realität entfernt ist.

     

    - Die Mehrheit der Menschen in BaWü unterstützt laut aktuellen Umfragen Stuttgart 21 und traut der Minderheit der grünen Blockierer folglich nicht zu, das Verkehrssystem zu modernieren.

     

    - Vermögende zahlen auch unter Schwarz-Gelb nicht weniger Steuern. Da scheint der Herr Opfer seiner eigenen Vorurteile zu werden.

     

    - Es gibt einen Mangel(!) an KiTa-Plätzen. Dass der Herr hier den Eindruck erweckt, teure KiTa-Plätze stünden leer, weil Eltern dafür bezahlt werden, ihre Kinder zu Hause zu lassen, ist schlicht absurd. Richtig ist aber, dass der Staat auch solche Familienmodelle unterstützt, wo die Eltern ihre Kinder nicht weggeben wollen. In einem freien Land sollten solche Lebensentwürfe nicht diskriminiert werden.

     

    - Die Grünen sind auch nicht schichtenübergreifend verankert. Sie sind eine Klientelpartei der Akademiker und Besserverdiener, sie werden von den "kleinen Leuten" kaum gewählt. Und man sollte nicht vergessen, dass die CDU sowohl in BaWü als auch RLP deutlich(!) vor den Grünen liegt.

     

     

    Wenn die Grünen genauso denken wie der stellvertretende Chefredakteur ihrer Parteipostille, dann folgt auf den Hochmut der schnelle Fall.

  • S
    satire?!?

    "zeigt das Maß der Erschütterung des deutschen Parteiensystems"

    ist das so? ich seh das eher als den immergleichen prozess in diesem system an. die ständige wiederholung ohne große veränderungen.

    schaut doch mal, was für gesetze alles unter grüner mitbestimmung getroffen sind (nicht nur bund, sondern auch land).

     

    "Auf Union und FDP setzt man dagegen keine Hoffnungen mehr."

    das stimmt doch überhaupt nicht. es ist ja kein geheimnis, dass ihr den grünen sehr nahe steht und auch gern mal etwas pro-stimmung verbreitet, aber das geht doch wohl zu weit.

    die cdu hat 39% (-5,2%) bzw 35 % (+2,4%) bei 66% (+13%) und 61% (+~4%) wahlbeteiligung geholt.

    und dies trotz aller skandale, umweltkatastrophe, lybienkrieg.

    sie hat also sehr wohl, trotz erhöhter wahlbeiteilung zum einen nicht sonderlich viel an stimmen verloren und zum anderen sogar zugelegt.

    lediglich die fdp schreitet ihren weg weiter voran in die opposition -wenn überhaupt.

     

    "Für diese neuen Mitbestimmungs-Bürger sind nur die Grünen glaubhaft, schließlich sind diese selbst aus Bürger-Initiativen entstanden"

    achja? ist das so? wirklich? das kann doch will nicht ernst gemeint sein.

    ich frag mich grad echt, ob ich hier irgendwo das wort satire überlesen habe..

    das kann doch wohl nicht sein, dass ihr so parteiisch seid...und oberflächlich

  • H
    hto

    "Aufbruch der Mutbürger" - da verwechselst du wohl die heuchlerische Ohnmacht der gutbürgerlich-gebildeten Suppenkaspermentalität auf Sündenbocksuche, mit Mut der doch nur demonstrativer Protest gegen den leichtfertigen Umgang mit der delegierten Verantwortung also Wut ist!?

     

    Mut wäre, wenn die Interessen-Gemeinschaften nicht mehr stumpf- wie wahnsinnig Forderungen an die durch Kreuzchen auf dem Blankoscheck gewählten "Treuhänder" stellten, und stattdessen eine EINDEUTIG-wahrhaftige Welt- und Werteordnung auf dem Weg der Macht der Straße kommunizieren würden - Fusion gegen die konfusionierende Überproduktion von systemrationalem Kommunikationsmüll in "Wer soll das bezahlen?" und "Arbeit macht frei"!!!

  • WS
    walt s

    still disliking die grünen.

     

    die partei des kosovo kriegs und des sofortigen atomaustieg in 30 jahren kann ich nur fürchten.