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Kommentar Gezi-JahrestagWie wollen wir leben?

Jürgen Gottschlich
Kommentar von Jürgen Gottschlich

Nach einem Jahr halten viele die Gezi-Protest-Bewegung für gescheitert. Doch der ging es nie um den Machtwechsel, sondern ums Grundsätzliche.

Überdruss am autoritären Paternalismus: Die Gezi-Bewegung 2013. Bild: ap

I STANBUL taz Heute vor einem Jahr kam es in einem kleinen Park im Zentrum von Istanbul zu ersten Protesten, weil Bauarbeiter im Morgengrauen versucht hatten, Bäume für die Erweiterung einer Straße zu fällen. Was als lokale Aktion begann, entwickelte sich wenig später zur größten zivilgesellschaftlichen Protestbewegung, die die Türkei je gesehen hatte.

Ein Jahr später sehen nicht Wenige diese Protestbewegung als gescheitert an. Zwar ist aus dem Gezi-Park noch keine Baugrube für einen weiteren Konsumtempel geworden und es sieht auch nicht so aus, als würde das demnächst passieren, doch der eigentliche Adressat der Proteste, Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan, sitzt so fest im Sattel wie eh und jeh. Es gibt wenig Zweifel daran, dass er im August zum nächsten Staatspräsident der Türkei gewählt werden wird.

Doch diese Analyse greift zu kurz. Die Gezi-Bewegung war nie angetreten, um Erdogan zu stürzen und ein Machtwechsel herbeizuführen. Es ging und geht nicht um kurzfristige machttaktische Fragen. Es geht vielmehr um die Frage: Wie wollen wir leben?

Autoritär, paternatistisch und patriarchalisch

Seit Jahrzehnten wird die Türkei von dem Konflikt zwischen einem säkularen, kemalistischen Gesellschaftsverständnis und einer mehr oder weniger stark islamisch geprägten konservativen Schicht gelähmt. Beides sind im Kern autoritäre, paternalistische Gesellschaftsformationen, in denen die Menschen das tun sollen, was ihnen die Regierung, das Militär, der Imam oder der Professor zu sagen haben.

Autoritär, paternatistisch und patriarchalisch. Genau das ist es, was die Gezi-Bewegung in Frage stellt. Der erste unmittelbare Protestimpuls war und ist der Wille, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen.

Warum soll man sich damit abfinden, dass Erdogan den letzten Park im Zentrum von Istanbul zubetonieren lassen will? Wollen wir in einer solchen Stadt leben? Mit diesen Fragen ging es los und schnell war klar, dass die Demonstranten in Istanbul und allen anderen Städten des Landes vor allem ein Gefühl eint: Der Überdruss am autoritären Paternalismus Erdogans, genauso wie am vorhergehenden Paternalismus der Kemalisten.

Individuelle Selbstbestimmung, echte Demokratie, Weltoffenheit, Toleranz gegenüber Andersgläubigen oder gar nicht Gläubigen, Teilhabe an einer globalisierten Welt – dass sind die Werte und Parolen, für die die Gezi Bewegung auf die Straße gegangen ist und für die sie weiter klämpfen wird.

Erdogan hat diesen Aufstand der modernen Türkei brutal unterdrückt. Um an der Macht zu bleiben, muss er immer mehr Gewalt einsetzen. Seine Regierung hat die Türkei international isoliert, er und seine Mannschaft verlaufen sich immer stärker in einem Labyrinth von Verschwörungstheorien, die mit der Realität wenig zu tun haben. Auch wenn es im Moment nicht so aussieht: diese Macht ist nicht stabil. Der Wunsch nach Demokratie und Selbstbestimmung lässt sich auf Dauer nicht gewaltsam unterdrücken.

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Jürgen Gottschlich
Auslandskorrespondent Türkei
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3 Kommentare

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  • Die Schergen Erdogans wollen genauso leben.

     

    http://webtv.radikal.com.tr/turkiye/7819/diyarbakirda-sokak-ortasinda-polis-dayagi.aspx

     

    Im Video sieht man, wie die Polizei jemanden festnimmt und gemäß Menschenrechte behandelt.

     

    Als ich in den Jahren 2006 bis 2010 AKP kritisierte, hat man in Europa die Kritiker nicht ernst genommen, sie seien betonierte Kemalisten usw. Nun zeigt sich das wahre Gesicht der AKP, nachdem der Führer Erdogan das gesamte Staatsapparat unter seine Kontrolle gebracht hat und jeden Kritiker einfach mal ins Gefangnis wandern ließ.

    Wo war die Kritik von taz? Als der Schauprozess namens Ergenekom begann, hat man sich mit der Kritik zurückgehalten, denn die Geschäfte mit der Türkei liefen ja, Hauptsache erzielt die Wirtschaft Gewinne. Menschenrechte gehen uns ja schließlich am Arsch vorbei.

  • 6G
    688 (Profil gelöscht)

    "... einer mehr oder weniger stark islamisch geprägten konservativen Schicht gelähmt."

     

    AUCH BEI UNS, bzw. besonders durch uns, die wir im Kreislauf des GEISTIGEN STILLSTANDES des nun "freiheitlichen" Wettbewerbs um "Wer soll das bezahlen?" und "Arbeit macht frei" UNsolidarisch, UNwahrheitlich, usw. "zusammen" das "Recht des Stärkeren" vorleben, IST ES der bewußtseinsbetäubte KONSERVATISMUS, besonders durch eine systemrational-karrierefördernde Bildung zu Suppenkaspermentalität auf Schuld- und Sündenbocksuche, für die Hierarchie von und zu materialistischer "Absicherung", der auch den "arabischen Frühling" zu einer Nullnummer gemacht hat, wo längst geistig-heilendes Selbst- und Massenbewußtsein OHNE Wettbewerb, bzw. OHNE die logische Symptomatik in nationalsozialistisches "Individualbewußtsein", usw., ... wirken sollte!!!

     

    Eine andere / menschenwürdige Welt ist absolut machbar, es muß daher zuerst einmal bei uns die Abkehr der Konfusion in Überproduktion von KOMMUNIKATIONSMÜLL betrieben werden - Wenn GRUNDSÄTZLICH alles allen gehören darf, so daß "Wer soll das bezahlen?" und "Arbeit macht frei" keine Macht mehr hat, kann PRINZIPIELL alles wirklich-wahrhaftig / eindeutig und zweifelsfrei demokratisch organisiert werden, dann klappt's u.a. auch mit einem nachahmenswerten Vorbild von Globalisierung!!!

    • 6G
      688 (Profil gelöscht)
      @688 (Profil gelöscht):

      "Der erste unmittelbare Protestimpuls war und ist der Wille, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen."

       

      Doch die reine / menschenwürdige Vernunft, läßt Mensch immer wieder zu einem leicht korrumpierbaren Opfer des geistigen Stillstandes im nun "freiheitlichen" Wettbewerb um ... werden, so daß der "Freie Wille" auch wieder in leichtfertiger Kompromissbereitschaft ...???

       

      Das mediale Gelaber über die scheinbar selbstverursachten Ohnmachten und ... ist zum Kotzen!!!