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Kommentar Gewalt in NicaraguaGegen das System Ortega

Ralf Leonhard
Kommentar von Ralf Leonhard

Die Herrschaft Ortegas hat das Land zerüttet. Das zeigt sich an gestiegenen Treibstoffpreisen und an einer kostspieligen Sozialreform.

Managua, am 21. April: Gewaltsamer Protest gegen die geplante Reform des Sozialwesens Foto: dpa

I n wenigen Tagen sind friedliche Proteste gegen eine überfallartig verordnete Belastung in Nicaragua zu einer nationalen Aufstandsbewegung geworden. Sie ist schon deswegen nicht kontrollierbar, weil keine organisierte Kraft dahintersteckt, sondern das ansteckende Lauffeuer der sozialen Medien.

Mit Slogans aus dem sandinistischen Befreiungskampf und dem Fällen von metallenen „Lebensbäumen“, mit denen die esoterisch angehauchte Präsidentengattin die Hauptstadt dekorieren ließ, richten sich die Demonstranten nicht mehr nur gegen die Erhöhung der Sozialversicherungsbeiträge, sondern gegen das System Ortega an sich.

Die Herrschaft von Daniel Ortega und seiner Frau Rosario Murillo beruht auf einer Kombination von Kontrolle und Wohltaten. Die wichtigsten Medien befinden sich in der Hand der Partei oder der Familie Ortega. Über die Parteistrukturen bis ins kleinste Dorf kann gesteuert werden, wer einen Job oder Anreize für die Landwirtschaft bekommt.

Gleichzeitig herrschte in den vergangenen Jahren wirtschaftliche Stabilität. Eine gravierende Energiekrise konnte dank großzügiger Schützenhilfe des ehemaligen venezolanischen Staatschefs Chávez bewältigt werden. Vom günstig und auf Pump gelieferten Erdöl durfte Ortega die Hälfte mit Gewinn weiterverkaufen. Mit diesen Geldern, die nicht ins offizielle Budget flossen, wurden ein Gutteil des Sozialsystems und in Gutsherrenmanier verteilte Gaben finanziert.

Mit dem Niedergang des Chávez-Systems in Venezuela ist diese Bonanza zu Ende. Der Plan, Nicaragua mittels eines interozeanischen Kanals zum boomenden Dienstleistungsstandort zu machen, hat sich als gigantische Fehlkalkulation erwiesen. Die Erhöhung der Treibstoffpreise und die Reform der Sozialversicherung sind wohl erst der Anfang einer Serie unpopulärer Maßnahmen. Auf ein Ausbrechen von Unruhen waren Ortega und seine Leute offenbar vorbereitet. Aber sie sollten aus eigener Erfahrung wissen, dass Repression eine Rebellion noch weiter anfacht.

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Ralf Leonhard
Auslandskorrespondent Österreich
*1955 in Wien; † 21. Mai 2023, taz-Korrespondent für Österreich und Ungarn. Daneben freier Autor für Radio und Print. Im früheren Leben (1985-1996) taz-Korrespondent in Zentralamerika mit Einzugsgebiet von Mexiko über die Karibik bis Kolumbien und Peru. Nach Lateinamerika reiste er regelmäßig. Vom Tsunami 2004 bis zum Ende des Bürgerkriegs war er auch immer wieder in Sri Lanka. Tutor für Nicaragua am Schulungszentrum der GIZ in Bad Honnef. Autor von Studien und Projektevaluierungen in Lateinamerika und Afrika. Gelernter Jurist und Absolvent der Diplomatischen Akademie in Wien.
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1 Kommentar

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  • 8G
    81622 (Profil gelöscht)

    Es ist nur zu hoffen, dass die jetzige Revolte nicht von der traditionellen Rechten und der Bourgoisie im Land gekapert wird. Da der Aufstand bisher keine traditionelle Organisationsform hat, sondern spontan von der Basis kommt, laufen die Muchachos von heute Gefahr, vom System besiegt zu werden.

    Der Orteguismus aber, die neoliberale, populistische und autokratischen Regierungsform der Familie Ortega, die, mit Kollaboration der Bourgoisie, das Land seit 10 Jahren im Griff hat, ueberschreitet mit jedem Toten die rote Linie, die es in Nicaragua seit der Revoliution 1979 gab, nicht auf Demonstranten zu schiessen, wie es unter dem Ex-Diktator Somoza ueblich war. Ein Zureuck wird es fuer Ortega jetzt nicht mehr geben und er und seine Frau werden irgendwann zur Rechenschaft gezogen werden. Einige Polizeioffiziere haben sich schon geweigert, gegen die Demonstrationen vorzugehen und sind verhaftet worden. Die Armee ist wohl aauch deshalb in einigen Staedten auf der Strasse.

    Mehr und mehr aehneln sich die Bilder von 1979 und heute: Muchachos hinter Barrikaden, die Soldateska mit Gewehr im Anschlag, sowie der jetzige Mord am Journalisten in Bluefields vor laufender Kamera. Der Mord am US-amerikanischen Fernsehreporter Bill Stuart, kostete damals Somoza endgueltig die Unterstuetzung durch die USA. Dieses Glueck im Unglueck haben die jetzigen Muchachos nicht.

    Die Frage ist, wie sich die uebriggebliebenen linken Regierungen Lateinamerikas verhalten werden: Cuba, Venezuela, Bolivien und Ecuador. Zu befuerchten ist, dass sie sich, mit Ausnahme Ecuadors, hinter den Diktator Ortega stellen.