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Kommentar Gedenken in der TürkeiMissbrauchter Mord

Jürgen Gottschlich
Kommentar von Jürgen Gottschlich

Seit Jahren hat es keinen Aufmarsch von dieser Größe gegeben. Und dies nur, um den "Vorwurf" des Völkermordes und die "armenischen Lügen" zurückzuweisen.

G edenktage haben neben dem Gedenken an die Opfer auch immer das Potenzial, politisch missbraucht zu werden. Ein eindrückliches Beispiel dafür lieferten gestern mehr als zehntausend Demonstranten in Istanbul, die vorgeblich der Opfer eines Massakers an Aseris in Berg-Karabach gedenken wollten, tatsächlich jedoch gekommen waren, um lautstark gegen die armenischen Völkermord-Vorwürfe zu protestieren.

Die gestrige Kundgebung in Istanbul, zu der sich die gesamte türkische Rechte, aber auch Gewerkschaftler, Islamisten und jede Menge Jugendliche aus den Armenvierteln der Stadt versammelt hatten, waren zuerst einmal eine Reaktion auf den französischen Vorstoß, die Leugnung des armenischen Völkermordes unter Strafe zu stellen.

Es zeigt, wie sehr Aktionen wie die in Frankreich geeignet sind, die selbstkritische Aufarbeitung der Geschichte zu torpedieren. Seit Jahren hat es keinen Aufmarsch von dieser Größe gegeben, um den "Vorwurf" des Völkermordes und die "armenischen Lügen" zurückzuweisen.

Bild: taz
JÜRGEN GOTTSCHLICH

ist Türkeikorrespondent der taz und lebt in Istanbul. 2008 publizierte er das Buch "Türkei. Ein Land jenseits der Klischees". Er bereist und berichtet regelmäßig über die Länder des Nahen und Mittleren Ostens.

Dank Sarkozy sind die Schatten der Vergangenheit jetzt zurück. Zwanzig Jahre lang hat das Massaker in Hocali, bei dem mehr als 600 Zivilisten von armenischen Freischärlern 1992 in Karabach ermordet wurden, kaum eine Rolle gespielt. Plötzlich fordern Tausende Demonstranten "Gerechtigkeit für die Opfer von Hocali".

Sicher, die Annäherung zwischen der Türkei und Armenien stockt seit langem, aber die zivilgesellschaftliche Debatte in der Türkei hatte eine eindeutig positive Richtung. Das verlogene Auftrumpfen in Frankreich bringt die Türkentümler jetzt wieder in die Offensive. Das Verhalten des offiziellen Armenien tut ein Übriges. Auch in Jerewan und der armenischen Diaspora will man nicht zugeben, dass das Massaker in Hocali (armenisch Khojalu) durch nichts zu rechtfertigen war.

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Jürgen Gottschlich
Auslandskorrespondent Türkei
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7 Kommentare

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  • L
    Luft

    andreas schrieb:

    "Wer diesen Bericht einmal gelesen hat, findet kein Verständnis mehr für die Haltung der Türkei in dieser Frage."

     

    So langsam frage ich mich, in welcher Frage man überhaupt noch Verständnis für die Türkei aufbringen kann bzw. sollte.

     

    Genozid?

    Intergration?

    Menschenrechte?

     

    Noch eine Frage: Schaut Europa aus wirtschaftliche Interessen weg?

  • S
    suswe

    @ Stoffel: Leider eine wahre Aussage. Die Doppelmoral Westeuropas ist ein großes Hindernis für echte Entwicklung in anderen Kontinenten oder Staaten. Stattdessen kauft man dort unsere Autos und Kernkraftwerke.

  • G
    Gardiyan

    Die Türkei ist zu gutmütig und zu demokratisch und zu liberal.

     

    Jedes andere Land hätte einen Falschreporter wie Gottschlich längst aus dem Land geschmissen.

     

    Er lebt dort und hat nur Lügen und Antistimmungmache gegen die Türkei zu erzählen.

     

     

    In einem anderen Taz-Artikel setzt er die Massaker in Hocali in Anführungsstriche http://www.taz.de/Demonstrationen-in-der-Tuerkei/!88481/

     

    Er leugnet also die Massaker an Aseris. In diesem Artikel gibt er es Zähne knirschend zu. Das ist Unehrlichkeit und absolut unethisch für den Journalistenjob.

     

    In diesem Artikel betont Gottschlich, dass es "nur" 600 ermordete Aseris waren, wohl wissend, dass das Aufrechnen der Opfer ist und Quantität nichts mit Qualität zu tun hat.

     

    Die jenigen, die in Istanbul demonstriert haben, sind auch nur "Nationalisten" und aus "Armenvierteln", und kein Wort darüber, dass auch Künstler unter den Demonstrierenden waren wie Alisan und Murat Kekilli.

     

    Wenn es um den Völkermordvorwurf an Armeniern geht, kann man von Gottschlich niemals lesen, dass das "Missbrauch von Mord" sei. Da nennt er dann Quellen des Antisemiten und Quellenfälschers Lepsius als "Beweis", obwohl diese Quellen klare Fälschungen sind

     

    http://www.armenocide.de/armenocide/armgende.nsf/GuidesView/MagischesViereckDe?OpenDocument

     

    "Erst der systematische Vergleich der von Lepsius veröffentlichten Dokumente mit den Originalen des Auswärtigen Amts4 ergab, daß es eine ganze Reihe von Verkürzungen oder auch Fälschungen gab und daß vor allem die Auslassungen Methode hatten"

     

    "Und bis heute gelten im deutschen Sprachbereich seine Schriften über die Tragödien der Armenier als die wichtigsten."

     

    Ich will nicht weiter ausholen, aber mit dieser unethischen Art oder Anbiederung an die populäre Meinung in Boulevardzeitungen um die eigene Karriere nicht zu gefährden, sät man nur Hass. Ändert euch, wenn ihr Dialog wollt.

  • HS
    Hans Stoffel

    Dies ist ja wohl auch der Zweck der Übung, wenn konservative Politiker in der EU ständig auf diesem Thema herumreiten: mittels ständiger Provokationen den zivilgesellschaftlichen Prozess in der Türkei torpedieren mit dem Ziel, die Verhandlungen zwischen der EU und der Türkei zu sabotieren.

     

    Man hat beispielsweise auch nicht den EU-Beitritt Belgiens von deren Umgang mit den ca. 12 Mio. Opfern der Terror-Herrschaft im Kongo abhängig gemacht - statt dessen huldigt man in Brüssel heute noch dem Hauptverantwortlichen mittels prächtiger Statuten und nach ihm benannten Straßen, Gebäuden etc. ...

     

    Was also unterscheidet die Türkei so sehr von Belgisch-Kongo, das die maximal 1,5 Mio. Todesopfer dort zum Dauerthema gemacht werden, während ca. 12 Mio. Tote im Kongo kaum jemanden beschäftigen? Das dürften sein:

    (a) die Religion der Täter

    (b) die Religion der Opfer

    © die Hautfarbe der Opfer.

     

    Und die Protagonisten dieser Haltung halten sich für die Speerspitze von Zivilisation und Aufklärung. Bäh.

     

    Es grüßt Euch: Stoffel

  • HW
    horst woerner

    Man muss doch nur den Bericht von Dr. Johannes Lepsius lesen, den er 1916 für die deutschen Reichstagsabgeordneten verfasst hat. Diese Bericht liegt unterdessen wieder als ungekürzte Neuauflage vor.

    (Gerhard Hess Verlag). Wer diesen Bericht einmal gelesen hat, findet kein Verständnis mehr für die Haltung der Türkei in dieser Frage.

  • A
    andreas

    Wenn das nächste mal rechtsradikale Deutsche Deppen auf die Strasse gehen sollten wir das damit entschuldigen daß es in Deutschland verboten ist den Holocaust zu leugnen.

    Wenn es nicht so trautig wäre :0(

  • JR
    Jens-Uwe Ries

    Seltsame Argumentation: Die Anerkennung als Völkermord gefährdet die Aufarbeitung? Jahrzehnte tut sich da kaum etwas in Richtung Aufarbeitung. Im Gegenteil: Ein Graus, zu lesen, was zu dieser Frage in türkischen Zeitungen steht. Das wäre so, als wenn Holocaust-Leugnung in Germany offizielle Richtlinie für alle Zeitungen wäre. Nur einzelne Romanciers scherten aus in den letzten Jahren, werden dafür aber vor Gericht gezerrt.

    Bloß nicht provozieren, die Nationalisten?