Kommentar Finanzkrise: Die stummen Verlierer
Nach den Banken und der Autoindustrie ruft jetzt die Chemieindustrie nach Hilfe. Übersehen wird dabei, dass es vor allem Leiharbeiter sind, die derzeit ihre Jobs verlieren.
M unter greift die Finanzkrise weiter auf die Realwirtschaft über. Nach den Banken, der Autoindustrie und dem Bau trifft es jetzt die Chemieindustrie. BASF schließt vorübergehend 80 Anlagen. Für all diese Branchen werden nun Rettungsschirme aufgespannt. Das ist im Prinzip richtig, trotzdem gibt es ein Problem. Denn: Wer ruft denn da um Hilfe? Bei den meisten handelt es sich um Unternehmen, die zunächst nur Gewinneinbußen verzeichnen müssen. Auch BASF hat allein im dritten Quartal 2008 noch knapp 1,6 Milliarden Euro Plus gemacht.
Beate Willms ist Redakteurin im taz-Ressort Ökologie und Wirtschaft.
Die große Ausnahme bildet die Leiharbeitsbranche. Sie, die die Krise am härtesten trifft, schweigt vor sich hin. Denn hier vollzieht sich die Arbeitslosigkeit schleichend. Erst werden die Leiharbeiter von den Entleihfirmen zurück in die Zeitarbeitsfirma geschickt: 5.000 Leute bei Conti, 5.000 bei BMW, 880 bei Daimler, um nur einige zu nennen. Finden die Verleiher keinen neuen Arbeitsplatz für die Zurückgeschickten, folgt die Kündigung. Doch von dieser erfährt kaum noch jemand etwas. Denn niemand schaut den Zeitarbeitsfirmen so genau auf die Finger wie den Auto- oder Chemiekonzernen. Und sie selber sagen nichts, um ihr Image nicht zu beschädigen.
Die Leiharbeit war die Zauberformel für den flexiblen Arbeitsmarkt, ein Kernstück der Agenda 2010. Jeder dritte Job, der im letzten Aufschwung entstand, war ein Leiharbeitsplatz. War. Experten rechnen 2009 mit 250.000 Stellen weniger in der Branche.
Wo ist hier der Rettungsschirm? Wo bleibt der Kündigungsschutz? Wer macht Sozialpläne bei Massenentlassungen? Bislang niemand. Denn das würde bedeuten, dass die Arbeitsmarktpolitik noch mal überdacht werden muss. Wer Leiharbeiter nach normalen Standards beschäftigen will, wird feststellen, dass er mehr Arbeitsplätze braucht. Regierung und Tarifpartner könnten sich hier ein Beispiel an den aktuellen Lösungsansätzen der Industriekonzerne für ihre Kernbelegschaften nehmen: Arbeitszeitverkürzung verteilt die vorhandene Arbeit auf mehr Menschen. Wie das dann mit dem vollen Lohnausgleich funktioniert, wird man herausfinden, wenn man diese Frage wieder ernsthaft diskutiert. Und darum geht es jetzt.
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