Kommentar Evangelischer Kirchentag: Ermattetes Bürgertum
Günther Beckstein fühlte sich wohl, Helmut Schmidt auch. Egal. Schade nur, dass es keine aufrüttelnden Debatten gab.
Dass sich der Kirchentag verändert, ist weder verwunderlich noch verwerflich. Er mag konservativer und spiritueller werden, gar ein Ort, an dem sich auch ein Günther Beckstein wegen der "überwundenen einseitigen politischen Ausrichtung" wieder wohlfühlt - soll er. Die Voraussetzung dafür ist aber natürlich, dass das Protestantentreffen spürbar an Kritikfähigkeit und visionärem Geist eingebüßt hat, und das bleibt bitter.
Ein Indiz für jene zunehmende Denkfaulheit ist etwa die Begeisterung für Helmut Schmidt. Obgleich dieser jedwede Überlegung über Grenzen des Wirtschaftswachstums mit billigen Bonmots in die Sphäre von "pensionierten Studienräten" verwies. Schmidt darf sich mit solchen Äußerungen gern selbst treu bleiben - doch von den Podien und dem Publikum des Kirchentags war man schon mal Aufregenderes gewohnt.
Sicher: Der Ruf nach einer funktionierenden internationalen Finanzaufsicht war fast schon ritueller Bestandteil aller Arten von Redebeiträgen. Doch das Fokussieren auf die Forderung nach strengeren Regeln bedeutet implizit eben auch: The game shall go on - wir kennen nichts Besseres. Diese Hilflosigkeit müsste zumindest mehr Unruhe auslösen.
Der Bremer Kirchentag blieb damit ein Plädoyer für Pragmatismus, nicht für Aufbruch. Das mindert nicht den Wert von Hunderten interessanter Einzelveranstaltungen, von zigtausend Begegnungen samt reichhaltigem Erfahrungs- und Informationsaustausch. Nur: Wann bitte darf man echte Signale erwarten - wenn nicht in einer Krise wie der aktuellen? Auf dem Kirchentag, und das ist symptomatisch für die ihn tragenden Mittelschichten, hat sich Müdigkeit angesichts des vermeintlichen Ausgeliefertseins an globalökonomische Verflechtungen breitgemacht.
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