Kommentar EU-Vertrag in Karlsruhe: Nach Lissabon oder zurück?
Die Verfassungsrichter müssen genau diese Frage beantworten: Raubt der Lissabon-Vertrag dem Bundestag zu viel Gestaltungsmacht? Urteilen sie mit ja, ist der Vertrag geplatzt.
Die Geschichte der europäischen Integration ist eine Geschichte der Entdemokratisierung. Die nationalen Volksvertretungen haben an das Europaparlament Macht abgegeben, die dort aber nie angekommen ist. Denn bei jeder Vertragsreform sorgten die beteiligten Regierungen einstimmig dafür, dass wichtige Aspekte der parlamentarischen Mitentscheidung entzogen blieben.
Die Europäische Verfassung war der erste Versuch, diese Entwicklung umzukehren. Doch gerade diejenigen, denen das Demokratiedefizit in Europa eigentlich Unbehagen bereitet, brachten sie zu Fall. Sie wollten mehr - und bekamen den Lissabon-Vertrag. Er steht für den Spagat, die demokratische Substanz der Verfassung zu erhalten und gleichzeitig den neuen Souveränitätsanspruch der europäischen Volksvertreter zu verschleiern.
Bei den irischen Wählern kam der Taschenspielertrick schlecht an. Viele sagten nein, weil sie sich mit der Bewertung überfordert fühlten. Man kann es ihnen nicht verdenken. So einfach können es sich die Richter in Karlsruhe nicht machen. Sie sind dafür ausgebildet, genau diese Frage zu beantworten: Raubt der Lissabon-Vertrag dem Bundestag zu viel Gestaltungsmacht? Kommt diese Macht beim Europaparlament an? Und ist das Europaparlament überhaupt legitimiert, diese Macht im Namen der europäischen Wähler auszuüben?
Sollte das Bundesverfassungsgericht zu dem Schluss kommen, dass der Lissabon-Vertrag mit dem Grundgesetz nicht vereinbar ist, dann ist die Vertragsreform geplatzt. Länder wie Tschechien und Polen, denen die Integration viel zu schnell geht, können erleichtert aufatmen.
Doch vielen europäischen Regierungen ist klar, dass sie sich in Zeiten von Klima-, Finanz- und Energiekrise eine diffus und langsam reagierende Europäische Union nicht leisten können. Der Frage einer Neugründung Europas werden diese Länder auf die Dauer nicht ausweichen können. Sie werden es dann hoffentlich von Anfang an richtig machen - und demokratische Strukturen schaffen, an denen das Bundesverfassungsgericht nichts auszusetzen hat. DANIELA WEINGÄRTNER
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